1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Ohne zu fallen, ohne zu stolpern, oder auch nur zu straucheln, landete sie nur Sekunden später wieder auf ihren Füßen. Sie war einfach nur überrascht von sich selbst. Vor ein paar Minuten noch hätte sie schwören können, dass sie nie wieder einen Axel würde springen können, und jetzt hatte sie es tatsächlich geschafft. Es war vielleicht noch ein wenig wacklig, aber sie hatte es geschafft.
Sprachlos kam sie neben Izzy zum Stehen, die sie freudestrahlend anlächelte und jubelte: »Siehst du, ich hab es dir doch gleich gesagt. Das war nahezu perfekt.«
»Der Meinung bin ich aber auch.«
Erschrocken fuhr Jana herum und blickte direkt in die Augen ihres Direktors, der ohne ihr Bemerken die Eishalle betreten und sie die ganze Zeit beobachtet haben musste. Verlegen versuchte sie, ihm etwas zu entgegnen, doch ihr fehlten die richtigen Worte.
»Schon gut, du brauchst nichts zu sagen. Eigentlich warst du schon vor Wochen so weit, aber dir hat der Mut gefehlt. Du hattest den Glauben an dich selbst und an das, was du erreichen kannst, verloren. Und da konnte ich dir nicht helfen. Aber mir war bewusst, dass du nur den richtigen Ansporn brauchst, und den hast du wohl durch Izzy gefunden. Du bist also wieder so weit, ab morgen kannst du mit den anderen zusammen am Training teilnehmen.«
»Also war es Hongos Vorschlag gewesen, dass du mir hilfst?«, fragte Jana ihre blonde Mitschülerin, als sie wenig später in der Umkleide saßen.
»So halb und halb.«
»Wie jetzt?«
»Ich habe schon seit Längerem versucht, mit dir ins Gespräch zu kommen, aber du warst immer beschäftigt und so unnahbar. Als mich Herr Hongo dann gebeten hat, dir ein wenig unter die Arme zu greifen, fand ich das eine großartige Gelegenheit, endlich mal mit dir reden zu können. Okay, viel geredet haben wir jetzt noch nicht …« Sie fing an zu lachen, fügte dann aber schnell noch hinzu: »Vielleicht können wir ja Freundinnen werden, so richtig beste Freundinnen. Das wäre echt schön. Das würde ich gerne sein – ich würde gerne deine Freundin sein.«
Als Jana an diesem Abend auf ihrem Bett saß und wieder einmal durch das Fenster den leuchtenden Sternenhimmel beobachtete, kamen ihr immer und immer wieder die Worte dieses Mädchens in den Sinn. Ich würde das gerne sein – ich würde gerne deine Freundin sein. Wie hatte sie das nur so einfach sagen können, und das, obwohl sie sich nicht einmal kannten? Da Izzy allerdings nicht gleich eine Antwort darauf bekommen hatte, war sie ein wenig enttäuscht aufgestanden und hatte, bevor sie gegangen war, noch gemeint: »Ich warte auf dich und deine Antwort, ganz egal, wie lange du brauchst. Du kannst auf mich zählen.«
Jetzt im Nachhinein tat es Jana leid, dass sie Isabell so vor den Kopf gestoßen hatte. Einerseits wollte sie ja endlich Freunde finden, doch andererseits hatte sie auch große Angst davor, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen oder auf den Tod ihrer Eltern angesprochen zu werden.
Was sollte sie jetzt nur machen?
Vielleicht sollte sie sich morgen bei Izzy entschuldigen. Aber wofür denn? Etwa dafür, dass sie noch nicht bereit war, sich einem anderen zu öffnen? Sie wusste einfach nicht mehr wo ihr der Kopf stand. Ihre Gedanken schienen sich förmlich zu überschlagen. Und dann ganz plötzlich musste sie auch noch an ihren Lehrer Ralf Maier denken. Warum war es ausgerechnet ER, der ihr die Kraft gab, wieder an sich selbst zu glauben?
Der Rest der Woche verging eigentlich recht schnell und ohne große Zwischenfälle, und je mehr Zeit Jana auf dem Eis verbrachte, desto besser wurde sie wieder. Vorbei waren die Stunden der Angst, fast schämte sie sich, wenn sie an die letzten Wochen dachte. Wem sie das zu verdanken hatte, wusste sie, doch war sie im Umgang mit Isabell immer noch etwas unsicher und so blieb sie erst einmal auf Distanz.
Als Jana an diesem Wochenende angestrengt über ihren Hausaufgaben saß – mittlerweile war sie schon zwei Monate hier –, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab, es fiel ihr ungemein schwer, sich auch nur einen Moment auf die Dinge zu konzentrieren, die vor ihr lagen. Nachdem sie bemerkte, dass sie lediglich ein paar Tintenkleckse auf ihren Aufgaben hinterlassen hatte, legte sie alles beiseite und holte ihr kleines Tagebuch zur Hand, welches sie gut versteckt hinter ihrem Nachttischschränkchen aufbewahrte. Immer, wenn sie nicht mehr weiter wusste oder ihre Trauer zu groß war, schlug sie es auf und schrieb ihre Gedanken nieder. So konnte sie wenigstens einem anvertrauen, wie sie sich fühlte und was in ihr vorging.
Hey du!
langsam komme ich hier recht gut zurecht, doch weiß ich auf der anderen Seite nicht mehr, was ich machen soll!
Ich habe keine Kraft mehr, um nach außen hin die Starke zu spielen. Ich vermisse meine Eltern so sehr, dass ich das Gefühl habe, mein Herz zerreißt, wenn ich nur an sie denke.
Und dann noch diese komischen Gefühle, die ich jedes Mal habe, wenn ich IHN sehe, und die von Tag zu Tag größer zu werden scheinen. Habe ich mich vielleicht verliebt? Aber das kann doch gar nicht sein… Er ist doch mein Lehrer und wird niemals die Gefühle für mich haben, die ich für ihn hege. Dabei weiß er noch nicht einmal davon, und er darf es auch niemals erfahren.
Warum muss denn alles nur so kompliziert sein?
Was soll ich denn nur machen?
Bis bald , mein Freund!
Stumme Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen, in ihrem Kopf schienen sich die Gedanken fast zu überschlagen: Du musst dich jemandem anvertrauen! Einem Menschen – nicht einem Buch . Einer Freundin … Ich würde gerne deine Freundin sein …
Tief in ihr drin wusste sie, was zu tun war, doch ihr selbst fehlte der Mut. Ja, der Gedanke an eine Freundin, mit der man über alles reden konnte, die sogar ihre größte Leidenschaft mit ihr teilte, war überwältigend, doch diesen ersten Schritt zu gehen, dafür war sie noch nicht komplett bereit. Unentschlossen machte sie sich auf den Weg in die Eishalle. Hier würde sie einen klaren Kopf bekommen und für einen Moment alles um sich herum vergessen können, aber zu ihrem großen Bedauern waren beide Hallen besetzt.
»Zwei Dumme, ein Gedanke.«
Irritiert und erschrocken drehte sich Jana um und blickte direkt in die Augen von Isabell.
»Nicht, dass du dumm wärst, um Gottes willen, das wollte ich damit nicht sagen«, entgegnete diese schnell, als sie Janas verdutzten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Schon klar.«
Beide konnten sich das Lachen nicht länger verkneifen.
»Hm … und was nun?«, fragte Jana eher an sich selbst gewandt.
»Ich hab ʼne Idee, komm mit!«
Ohne auf eine Antwort zu warten, packte Izzy die Hand ihrer Mitschülerin und schleifte sie hinter sich her. Den Weg, den sie nun entlang liefen, hatte Jana zuvor noch nicht wirklich beachtet, und so konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, wohin Isabell sie führte. Zuerst liefen sie durch den kleinen Garten, der hinter der Schule lag, dann vorbei an einer Allee hochgewachsener Bäume, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten und Izzy abrupt stehen blieb.
Jana konnte ihren Augen kaum glauben, so überwältigt war sie von diesem Anblick – der See, der direkt vor ihnen lag, war einfach wunderschön. Es war wie in einem Traum: Das tiefblaue Wasser glitzerte im untergehenden roten Sonnenlicht, darauf schwammen anmutig Schwäne, die märchenhaft ihre Bahnen zogen, das Gras und die Bäume ringsherum wiegten sich im sanften Wind.
Noch nie zuvor war sie hier gewesen – sondern hatte den See nur ein einziges Mal vom Auto aus gesehen, als sie in Neustadt angekommen war.
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