Da es unmöglich war, dass alle neun Mädchen zur gleichen Zeit auf dem Eis standen, wurde die Klasse in drei Gruppen à drei Schüler unterteilt; die einen standen auf dem Eis, die anderen waren an den Geräten und die letzten an den Ballettstangen. Nach jeweils einer halben Stunde wurde gewechselt. Zu allerletzt waren dann Jana, Isabell und Svenja auf dem Eis und mussten wie die anderen zuvor ihren doppelten Axel zeigen, und ebenfalls wie zuvor, hatte Hongo an jedem der Sprünge etwas auszusetzen. Immer wieder hallten seine Rufe durch die Halle. » … zu tief … früher abspringen … falsche Drehung … Beine übereinander …«
Die Schwierigkeit bestand nicht darin, den Sprung perfekt zu stehen – der Axel gehörte schließlich zu den Pflichtelementen, die von Beginn an trainiert wurden – sondern eher darin, ihn in einem Lauf dreimal hintereinander zu stehen, ohne an Schwung oder Kraft zu verlieren. Selbst Jana hatte so ihre Schwierigkeiten. Zweimal hintereinander war kein Problem für sie, doch beim dritten hatte sie kaum noch genügend Kraft. Izzy hingegen überstand die Dreierkombination ohne große Mühe, und erntete mal wieder sehr viel Lob.
»So will ich das von euch allen sehen! Nehmt euch mal ein Beispiel!«
»Meine Güte, bin ich fertig«, brachte Jana nur noch hervor, bevor sie sich auf ihr Bett fallen ließ. »Ist der immer so?«
Irritiert schaute Izzy sie an: »Wenn du meinst, heute war es schlimm, dann freu dich schon auf die Choreographien! Hongo gilt nicht ohne Grund als bester Lehrer.«
»Na super«, fing Jana an zu kichern. »Aber was mache ich denn falsch? Früher war das alles kein Problem für mich«, fragte sie, nun wieder ernster.
»Dir fehlt die Kraft. Du musst bei der ersten Landung ein wenig mehr ins Knie gehen, aber gleichzeitig das linke Bein stärker durchdrücken und waagerechter halten. Vielleicht sollten wir … also du, ein paar Extra–Einheiten auf dem Rudergerät einlegen. Aber nicht mehr heute«, fügte sie schnell hinzu, als Jana bereits im Aufbruch war. »Wir sollten uns ausruhen, und jeden Tag ein bisschen mehr machen. Oder willst du dich morgen vor lauter Muskelkater nicht mehr bewegen können? Komm, wir machen jetzt unsere Hausaufgaben und bereiten uns auf den Unterricht vor. Ich kenne Hongo; sind unsere Noten wegen dem Turnier in Gefahr, werden wir automatisch ausgeschlossen.«
Jana verdrehte nur die Augen und machte sich widerwillig an die Matheaufgaben. Eigentlich wollte sie viel lieber ins Bett und einfach nur noch schlafen. So ausgepowert hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Doch weit gefehlt – nach den Hausaufgaben schleifte Izzy sie zum Abendbrot und danach noch zu einem ausgiebigen Spaziergang.
Doch all die Strapazen zeigten am nächsten Tag Wirkung. Als Jana in der Früh erwachte, stellte sie erstaunt fest, dass nicht ein Muskel in ihrem Körper sich sträubte. Ganz anders sah es bei den übrigen Eismädels aus, die bei jedem Schritt zu humpeln schienen und ihr Leid jedem unterbreiteten, dem sie begegneten.
»Es ist jedes Mal das Gleiche«, Izzy konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Immer, wenn ein Turnier ansteht, kann man beobachten, wie sich alle darauf stürzen und ihre Körper so überfordern, dass die Leistungen eher nachlassen. In zwei oder drei Tagen haben wir abends die Eishalle für uns alleine und können so lange üben, wie wir wollen. Und jetzt iss dein Frühstück auf! Eine ausgewogene Ernährung gehört genauso zu einem guten Training.«
»Oh, du bist so schlau«, grinste Jana Izzy an, während sie ihr Omelette aß.
Genauso, wie es Isabell vorausgesagt hatte, kam es dann auch. Die meisten Mädchen gaben weiterhin alles, versuchten, jede freie Minute auf dem Eis zu stehen, vernachlässigten dafür das Krafttraining. Man konnte förmlich zusehen, wie deren Leistungen abnahmen. Jana und Izzy hingegen, ebenso wie zwei andere Mädchen aus der neunten Klasse, verbrachten mehr Zeit an den Geräten als auf dem Eis.
Der Montag kam, vor nicht mal drei Tagen hatten sie erfahren, dass ein Turnier stattfinden würde, und die erste Schülerin fiel bereits wegen Bänderüberdehnung aus, und weitere zwei Tage später war abends zumindest eine der beiden Eishallen leer, sodass die beiden Freundinnen zusammen mit Svenja und Sarah, den beiden aus der neunten Klasse, üben konnten. Schon recht schnell kristallisierte sich heraus, dass Izzy die beste von den vieren war, und somit als Trainer fungierte.
Morgens Unterricht, nachmittags Sport und Training, und abends die Einzeleinheiten, zwischendurch noch die Hausaufgaben und Vorbereitungen auf den kommenden Schulstoff – der straffe Zeitplan kam Jana nur allzu recht. Sie hatte kaum noch Zeit, um an ihre Gefühle ihrem Lehrer gegenüber zu denken. Nur wenn sie abends erschöpft im Bett lag, schweiften ihre Gedanken hin und wieder ab, wenn die Augen nicht gleich zufielen.
* * *
So vergingen die nächsten zwei Wochen. Mittlerweile waren zwei weitere Mädchen aus der anderen Klasse vom Turnier ausgeschlossen, als Herr Hongo endlich der Meinung war, dass die Grundelemente bei jedem so gut saßen, dass man sich dem Kurzprogramm zuwenden könnte. Dazu sollte sich jede der Schülerinnen bis zum nächsten Tag ein Lied aussuchen, zu dem sie laufen wollten. Aber es sollte nicht irgendein Lied sein; als besondere Herausforderung hatte Hongo vorgegeben, dass es eine bekannte Filmmusik sein sollte. Isabell musste nicht lange überlegen. Sie war schon immer eine quirlige und aufgeweckte Läuferin gewesen und entschied sich daher für die Titelmusik zu ›Fluch der Karibik‹. Jana allerdings hatte so überhaupt keine Idee. Zwar war sie früher immer zu eher klassischen Stücken gelaufen, doch wusste sie nicht, ob sie diese Richtung beibehalten sollte.
»Wie soll ich denn bis morgen wissen, welches Lied ich nehmen will? Ich war doch schon immer so entscheidungsfroh. Mann, das ist doch gemein.«
»Hm … lass uns doch mal überlegen, welcher Typ du bist! Du bist eher die schüchterne, stille, in sich gekehrte Person, die das Traurige magisch anzieht, oder?«
Entrüstet entgegnete Jana: »So siehst du mich also?«
»Stimmt es, oder stimmt es?«
»Ja, ja, du hast ja recht«, gab sie schließlich kleinlaut zurück.
»Ganz spontan würde ich ja jetzt sagen: Enya, ›Only times‹, aber ich wüsste jetzt auf die Schnelle nicht, ob oder in welchem Film das Lied vorkommt. Du bist wirklich schwierig.«
Etliche Minuten später, beide hatten das Thema schon fast vergessen, platzte Izzy schließlich mit einem Vorschlag heraus: ›Pearl Habor mit Tennessee‹. Warte kurz, ich glaub, ich hab die CD noch irgendwo.« Sie stürmte zu ihrem Schrank, kramte unendlich lange in ihren Kartons herum, bis sie zu dem CD–Player lief, eine CD einlegte und nur wenig später das gesuchte Lied anspielte.
»Meinst du echt?«
»Aber klar. Das passt wie die Faust aufs Auge.«
»Okay, dann aber dein Auge, vor allem, wenn Hongo nicht deiner Meinung ist.«
Isabell schlief bereits, während sich Jana in ihrem Bett immer noch hin und her wälzte. In Gedanken versuchte sie, ihr Kurzprogramm so zusammenzustellen, dass es auch zu der Musik passte. Doch es war wie verhext, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, immer wieder musste sie an Ralf Maier denken.
Der nächste Morgen kam schneller, als ihr lieb war, sie hätte schwören können, dass sie nur zwei Stunden geschlafen hatte, und so sah sie auch aus. Tiefe Augenringe zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, sodass man hätte meinen können, sie habe die ganze Nacht hindurch geweint. Izzy schien dies zwar zu bemerken, verkniff sich aber jeden Kommentar, worüber Jana äußerst dankbar war. Wie sollte sie ihrer neuen Freundin auch erzählen, dass eine unerreichbare Liebe ihr den Schlaf raubte?
Gedankenverloren kritzelte sie auf ihren Unterlagen herum, während sie versuchte, dem Unterricht zu folgen, doch alles, was bei ihr ankam, war nur »Blablabla«. Als die Schulglocke endlich das Ende der letzten Stunde verkündete, atmete Jana mehr als erleichtert auf und packte geschwind ihre Sachen zusammen.
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