Als Isabell, immer noch geschockt, bei ihr angelangt war, richtete sich Jana bereits lachend auf und rieb sich über die Knie: »Oh Mann, erst zu wenig Schwung und jetzt zu viel. Aber wenigstens schaffe ich den Sprung jetzt.«
Jetzt stimmte auch Izzy ins Lachen ein.
Wieder einmal viel zu früh läutete es zum Unterrichtsende und so hatten die beiden keine Zeit mehr, ihre Choreographie noch einmal zu laufen. Da Herr Hongo aber morgen von allen die Kurzkür sehen wollte, um die Gruppe weiter zu verkleinern, beschlossen sie, nach dem Abendbrot noch mal eine kleine Übungsstunde einzulegen. Zu ihrer Überraschung hatten sie das Eis für sich alleine und konnten ungehindert trainieren.
»Toll, bei dir sieht das so einfach und gleichzeitig so super aus. Hongo wäre blöd, wenn er dich nicht mitnimmt«, schwärmte Jana, als Izzy ihr Programm vorgeführt hatte.
»Ach, übertreib nicht! Hier und da muss ich noch kleine Verbesserungen vornehmen. So und jetzt du!«
Da die beiden so mit ihrem Training beschäftigt waren, hatten sie nicht bemerkt, dass sie seit einigen Minuten Publikum hatten: Herr Hongo saß zusammen mit Herrn Torbens und Herrn Maier oben auf einer der Tribünen.
Izzy drückte auf Play ihres kleinen Recorders und die ersten Klänge von ›Tennessee‹ erfüllten den Raum. Schwerelos glitt Jana übers Eis, sie fühlte sich frei und gleichzeitig so lebendig. Ihren dreifach doppelten Axel stand sie problemlos, und auch sonst sahen ihre Figuren, ja ihre ganze Kür einfach atemberaubend aus.
»Das ist Jana, wie ich sie kenne. Sie lebt ihre Musik«, meinte Herr Hongo, als er sah, wie begeistert Herr Maier dem Schauspiel beiwohnte.
Als sie zum Abschluss in ihre letzte Pirouette einsetzte, entdeckte sie Ralf und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Ein kurzer Augenblick, der reichte, dass sie komplett aus dem Takt kam und stürzte.
»Oh Gott, Jana, ist dir was passiert?« Izzy war sofort bei ihr und half ihr auf die Beine, während auch die drei Lehrer geschockt zu ihr eilten.
Warmes Blut lief Janas Arm hinunter, doch bevor dies jemand sehen konnte, bedeckte sie die Stelle mit ihrer Hand.
»Geht es dir gut? Das sah ja böse aus«, fragte Herr Hongo, als er die beiden Mädchen erreicht hatte.
Jana sah beschämt zu Boden. Izzy, die ihre Freundin noch immer stützte, wusste sofort, warum. Es war wegen ihres Klassenlehrers, wegen Ralf Maier. Also war er auch der Grund für ihren Sturz.
»Mir ist nichts passiert. Mir geht es gut. Wirklich.«
Izzys Blick fiel auf Janas Hand, das Blut sickerte langsam durch ihr Shirt.
»Aber wir sollten langsam Schluss machen für heute, Jana. Es ist schon spät.« Ohne die Reaktion der Lehrer abzuwarten, führte Isabell ihre Freundin aus der Halle und direkt in die Umkleidekabine. »Zeig mal her!«
»Ist nicht schlimm.«
Doch schon hatte Izzy Janas Arm gepackt und den Ärmel hoch geschoben. »Nicht schlimm, würde aber nicht so bluten … Oh je, dass sieht wirklich nicht gut aus.« Sowohl an ihrem linken Ellenbogen, als auch an der Schulter zeichneten sich einige tiefere Schürfwunden ab, die immer noch stark bluteten.
»Ich habe eben sehr dünnes Blut. Schon ein kleiner Piekser blutet bei mir total stark. Blöd nur, dass ich Null negativ bin.«
»Aha … und was bedeutet das?«
»Ich kann zwar jedem Blut spenden, aber wenn ich Blut brauche, muss der Spender auch Null negativ sein, da es sich sonst nicht verträgt. Und Spender mit meiner Blutgruppe sind selten. Ich glaube, unter zehn Prozent.«
»Ich weiß meine Blutgruppe gar nicht.«
Nachdem die Blutung so mehr oder weniger versorgt war – Izzy Tat, was sie konnte, doch es wäre ihr lieber gewesen, wenn Jana wenigstens mal kurz die Ärztin hätte drüber schauen lassen – machten sie sich auf in ihr Zimmer.
»Abgesehen von deinem Sturz am Ende war deine Kür definitiv besser als meine. Du sahst echt toll aus.«
»Ach quatsch … «
»Aber du musst dir echt was überlegen; du kannst ja nicht ständig aus dem Konzept kommen, wenn der Maier auftaucht!«
»Du hast es also bemerkt.«
»Mensch Jana, dass würde sogar ein Blinder merken. Wenn du nicht aufpasst, weiß hier bald jeder, dass du ihn magst.«
Während Isabell in dieser Nacht schon tief und fest schlummerte, konnte Jana einfach keinen Schlaf finden. Zu viele Gedanken kreisten ihr im Kopf herum. Sie versuchte, eine Möglichkeit zu finden, ihre Gefühle auszublenden, doch es war zwecklos.
Der nächste Morgen kam mal wieder viel zu schnell, doch Jana fühlte sich recht ausgeruht und fit – abgesehen von der noch immer schmerzenden Schulter und der damit verbundenen Bewegungseinschränkung. Die Unterrichtsstunden allerdings zogen sich wie Kaugummi, und je näher der Augenblick der Vorführung rückte, desto aufgeregter wurde sie. Sie musste es einfach schaffen, sie wollte beweisen, dass sie nicht das kleine hilflose Waisenmädchen war, sondern eine starke junge Frau, die sich trotz der Schicksalsschläge zurück ins Leben, an die Spitze kämpfen konnte.
Von den ursprünglichen achtzehn Mädchen waren nur noch zwölf übrig, ganz so, wie es Izzy vorhergesagt hatte, doch jede von ihnen lief ohne große Fehler. Nachdem auch Isabell eine Glanzleistung abgeliefert hatte, war endlich Jana an der Reihe. So aufgeregt wie heute war sie schon lange nicht mehr gewesen. Zu ihrem Glück waren nur die zwei Eislauftrainer anwesend, von Ralf fehlte jede Spur. Die Musik startete, sie atmete noch einmal tief durch und setzte sich in Bewegung …
»Ich muss gestehen, dass ich beeindruckt bin. Ihr alle habt euch um einiges verbessert, sodass uns die Entscheidung wahrlich nicht leicht fällt. Da nur zwei von euch mit nach Dortmund kommen, werden heute leider wieder einige von euch ausscheiden. Wir haben uns dazu entschlossen, heute acht von euch in die nächste Runde zu schicken. Wer das sein wird, könnt ihr in zwei Stunden am Schwarzen Brett erfahren. Freut euch aber nicht zu früh, denn die nächste Zeit wird richtig hart für euch werden. Bis zum Turnier sind es keine sechs Wochen mehr.«
Das Schwarze Brett befand sich in der Mitte des Glasdurchgangs, von dem aus man einen phantastischen Ausblick hatte. Eine riesige Schar Mädchen stand vor dem Aushang und verwehrte Jana und Izzy den Blick, doch anhand deren Reaktionen konnten sich die beiden Freundinnen recht schnell einen Überblick verschaffen, bis auch endlich Isabell sich durch die Menge gequetscht hatte.
»Wir sind beide noch dabei«, strahlte sie Jana an.
»Du machst Witze.«
»Nein, schau doch selbst, wenn du mir nicht glaubst. Außerdem sind sowohl Doro, als auch ihre ältere Schwester Theresia und deren Freundin Eva, die zwei Jahre über uns sind, weiter. Und Xenia und Maria aus der neunten, und Julia aus der elften Klasse.«
»Ah, okay. Dann bin ich mal gespannt, was jetzt die nächsten Wochen auf uns zukommt.«
»Das kann ich dir sagen: Nicht nur hartes Training, sondern sehr hartes Training.«
Wie aufs Kommando ließen beide die Schultern sinken und stöhnten gemeinsam auf, bevor sie in Gelächter ausbrachen.
* * *
Izzy behielt mal wieder recht: Das bisherige Training war nichts im Vergleich zu dem, was jetzt auf sie zu kam. Die erste Einheit begann noch vor Unterrichtsbeginn, die letzte endete kurz vor dem Abendbrot. Nach nur einer Woche mit diesem Pensum brach Maria unter Tränen zusammen, was ihren Ausschluss vom Turnier bedeutete.
»Mann, das ist doch unmenschlich«, ließ Eva ihrem Ärger freien Lauf, »wir buckeln uns hier noch zu Tode, und wofür?«
»Wenn du dem Druck nicht gewachsen bist, dann kannst du ja gehen und uns anderen die Eisfläche überlassen!«, donnerte Isabell zurück.
»Wer redet denn mit dir, Braun? DU solltest dich lieber zurücknehmen und deine große Klappe halten, sonst passiert noch ein Unglück!«
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