Als Jana wieder erwachte, stellte sie verwundert fest, dass es bereits halb fünf war. Die flache Umgebung außerhalb des Busses war in ein bergiges Panorama übergegangen, und fast alles, was Jana zu Gesicht bekam, war mit einer zarten weißen Schneedecke überzogen.
Kaum zehn Minuten später schien das Reiseziel endlich erreicht zu sein, denn völlig unerwartet war der Bus zum Stehen gekommen. In der Ferne konnte man ein kleines Dörflein erkennen, aber unmittelbar vor dem Fahrzeug stand ein großer Mann mittleren Alters, der, wie sich nur Minuten später herausstellte, der Leiter der Organisation Edgar Raun war.
Ohne viel Zeit zu verlieren, wurden nun die Koffer und Taschen von ein paar jungen Männern, die zweifelsohne zu Herrn Raun gehörten, in die vier Kleinbusse verfrachtet, die nur ein paar Meter weiter entfernt standen, und schon ging die Fahrt weiter. Der Weg war nicht sehr breit und irgendwie auch nur schwer befahrbar, sodass die Mädchen regelrecht durchgeschüttelt wurden.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen und stieg immer höher. Jana schaute sich vorsichtig um.
Mit einem Mal hörte der Wald auf und die Weiden begannen. Durch die vorherrschende Kälte waren sie kahl, und das letzte Gras, welches noch hier und da durch die Schneedecke zu sehen war, blass. Doch noch immer grasten auf ihnen Rinderherden. Dann sah sie einen Fluss, über den eine schmale Brücke führte, die genauso aussah wie der Weg sich anfühlte, nämlich alt und kaputt. In der Ferne erblickte sie eine Talsperre, die sie sehr faszinierte.
Das Haus, welches sie nach einer langen und holprigen Fahrt erreichten, lag unmittelbar an dem Fluss, der wiederum geradewegs zu der Talsperre zu führen schien, die nur wenige Kilometer entfernt war. Etwas weiter östlich fing der Wald an, durch dessen Bäume man eine kleinere Scheune sehen konnte. Der Anblick war so idyllisch, dass man die Strapazen der endlosen Fahrt schnell vergaß.
Auch wenn es bereits morgens war und eigentlich Unterricht stattfinden sollte, konnten die Mädchen nach dem Frühstück erst mal auf ihre Zimmer gehen – jeweils vier Mädchen auf einem Zimmer – und für ein paar Stunden schlafen. Erst gegen sechzehn Uhr sollten sich alle wieder vor dem Gebäude versammeln, damit alles Organisatorische geklärt werden konnte.
Als Isabell und Jana in ihrem Zimmer angekommen waren, platzte Izzy auch schon heraus: »Oh mein Gott! Habt ihr diesen John gesehen? Sieht er nicht einfach umwerfend aus?«
Ein wenig skeptisch antwortete Jana: »Diesen Kerl findest du süß? Ich weiß nicht so recht, der macht mir eher Angst. Allein seine Augen, so dunkel und bedrohlich. Nee, wenn ich den sehe, bekomme ich nur eine Gänsehaut.«
»Ach, red doch nicht so einen Blödsinn. Ich finde seine Augen ganz besonders atemberaubend. Ich glaube, ich werde ihn morgen mal ansprechen.«
»Wenn ich du wäre, würde ich meine Finger von diesem Typen lassen! Hast du vergessen, dass wir hier in so einer Art Erziehungscamp sind? Wer weiß, was der verbrochen hat oder warum er hier ist.«
»Du bist so eine Spielverderberin. Immer musst du alles so negativ sehen!«
Ehe man sich versah, war es vier Uhr nachmittags, und das bedeutete das Ende der Freizeit, denn kaum hatten sich alle Schülerinnen vor dem Haus versammelt, traten die Lehrer vor sie und verteilten die Aufgaben. So sollte zum Beispiel jeden Morgen eine vierstündige Wanderung stattfinden, und auch danach sollte keine Zeit zum Faulenzen bleiben, denn zu jeder Wanderung musste ein Aufsatz von mindestens drei Seiten Länge verfasst werden. Die Krönung des Ganzen, was alle Mädchen zu Wutanfällen brachte, war die sogenannte Zusatzarbeit, die auf jeden zukommen sollte und die daraus bestand, den Jugendlichen der Organisation, die sich im Moment bei Herrn Raun aufhielten, bei der Arbeit zu helfen. Dagegen wäre wahrscheinlich nichts einzuwenden gewesen, wären es nicht Aufgaben wie Ställe ausmisten, Abwasch oder auf dem Feld arbeiten. Allein bei dem Gedanken daran verging den Mädchen die gute Laune; das erinnerte sie an ein Straflager. Doch auch wenn sie noch so schimpften, die Lehrer ließen sich nicht umstimmen und blieben dabei, denn auf dieser Klassenfahrt sollten die Mädchen etwas lernen; sie war nicht zur Erholung gedacht.
So neigte sich also der erste, und vermutlich auch der einzige arbeitsfreie Tag dem Ende zu. Nach dem Abendbrot verzogen sich alle recht schnell wieder auf ihre Zimmer und ließen ihrem Frust freie Bahn, indem sie sich lautstark über die Lehrer und deren Methoden ärgerten.
Der nächste Morgen begann schon um sechs Uhr, als ein erschreckender Ton, welcher aus den Lautsprechern vor jeder zweiten Tür kam, durch die Flure des Hauses hallte, und alle aus den Betten warf. Mürrisch und unausgeschlafen gingen die Mädchen zum Frühstück und konnten ihren Augen kaum trauen, als sie dort auf den Tischen eine wirklich große Auswahl an Lebensmitteln entdeckten. Dort standen etliche Arten von Cornflakes, verschiedene Sorten Milch, Käse und Joghurt – aus eigener Produktion – Marmelade, Wurst und vieles, vieles mehr.
Eine halbe Stunde später – draußen war es noch immer neblig –, als alle gesättigt waren, konnte schließlich die erste Wanderung beginnen, welche die achte Klasse zusammen mit den Herren Maier und Kruse zu der Talsperre und die neunte Klasse mit Herrn Hongo und Frau Schirr in das naheliegende Dörflein führte. Unendliche Stunden des Herumwanderns gehörte nicht gerade zu der Lieblingsbeschäftigung der Mädchen, und erst recht nicht, da sie sich auch noch Notizen zu den angesprochenen Themen machen mussten, zu denen sie die Aufsätze zu schreiben hatten. Erst um dreizehn Uhr kehrten beide Gruppen fast zeitgleich in die Anlage zurück – alle total erschöpft und mit geschundenen Füßen. Doch zum Ausruhen blieb, dank der Lehrer, ja keine Zeit, da es jetzt darum ging, den Hausbewohnern zu helfen, und so wurden die Schülerinnen wieder in kleinere Gruppen aufgeteilt. Jana, Isabell und noch fünf weitere Mädchen mussten mit dem großen, unheimlich wirkenden John König in den Ställen arbeiten. Ganze drei Stunden waren sie damit beschäftigt, die Tiere zu verpflegen und deren Mist zu entsorgen, bis sie endlich fertig waren und auf ihre Zimmer konnten.
Total erschöpft sank Jana, nachdem sie zuerst ausgiebig geduscht hatte, in ihr Bett und wollte eigentlich nur ihre Ruhe haben, als Isabell wieder aufgeregt anfing, von diesem John zu schwärmen. Am liebsten hätte sie einfach nur gesagt: ›Sei bitte nur still und lass mich mit diesem Typen in Ruhe!‹ Oder hätte sie auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet, aber da sie auch immer mit ihren Problemen zu Izzy kommen konnte, ließ sie ihre Freundin weitererzählen und nickte nur ab und zu abwesend mit dem Kopf.
Einige Stunden später trafen sich dann alle wieder zum Essen und wie schon beim Frühstück gab es eine riesige Auswahl an Nahrungsmitteln. Doch Jana war viel zu müde, um auch nur einen Bissen hinunter zu bekommen und steckte sich nur ein Brötchen für später in die Tasche, als ihr auffiel, dass es nicht nur ihr so zu gehen schien. Beinahe alle ihre Mitschülerinnen hingen wie schlaffe Säcke über ihren Tellern und sogar die Lehrer – ausgenommen natürlich Herr Hongo, der munter und ohne äußerliche Anzeichen von Schwäche mit Herrn Raun sprach – schienen nichts anderes zu wollen, als sich einfach nur schlafen zu legen.
Die nächsten zwei Tage liefen in diesem Rhythmus ab – erst die stundenlange Wanderung quer durch die Gegend, dann die harte körperliche Arbeit mit den »vernachlässigten Jugendlichen«, wie sie Jana so gerne nannte, und zum Schluss die Ausarbeitung der Aufsätze, die pünktlich um zwanzig Uhr bei den Lehrern sein mussten.
Doch an ihrem vierten Tag in der Schweiz erlebten die Mädchen eine Überraschung, als sie sich am Morgen zum Frühstück versammelt hatten. Da es bereits am Vorabend angefangen hatte, stark zu regnen und es noch immer nicht aufgehört hatte, musste die Wanderung leider ausfallen, was natürlich allgemeinen Jubel nach sich zog. Somit hatten die beiden Klassen endlich mal einen Tag nur für sich allein, konnten tun und lassen, was sie wollten. So machte sogar die Hilfsarbeit am Nachmittag Spaß. An diesem Abend wurde dann auch noch ein großes Gemeinschaftskochen veranstaltet, was allen eine riesige Freude bereitete.
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