»Danke.«
Die zweite Runde hatte bereits begonnen, als die beiden zu Julia zurückkehrten, und keine zehn Minuten später wurde Jana aufgerufen. Mit angehaltenem Atem betrat sie die Eisfläche. Kurz bevor die Melodie erklang, erhaschte sie einen letzten Blick auf Herrn Hongo, der ihr aufmunternd zunickte. Jetzt fühlte sie sich frei, so unendlich frei. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, die Musik setzte ein und sie begann mit ihrer Choreografie.
Kaum waren die dreieinhalb Minuten vorbei, begann die Halle regelrecht zu toben. Jana fuhr strahlend zu ihrem Team hinüber, wo Hongo sie begeistert in seine Arme nahm. »Du warst unglaublich. Mein Gott, ich bin sprachlos.«
Wenige Sekunden später erschien die Punkteverteilung auf der riesigen Tafel.
»Herrgott nochmal, Jana, du hast die Höchstpunktzahl bekommen. Ich fasse es nicht. Damit bist du auf dem ersten Platz.«
Auch Jana konnte das kaum glauben und starrte fassungslos auf die Punkte. Vielleicht ist das alles nur ein Traum. Nein, ein Traum war das wirklich nicht. Sie hatte es geschafft, sie war auf dem ersten Platz gelandet, und auch keine der nachfolgenden fünf Eisläuferinnen konnte ihr diesen noch streitig machen.
Erst als die Siegerehrung begonnen hatte, Jana zusammen mit zwei anderen Mädchen auf dem Siegertreppchen stand und die goldene Medaille um den Hals trug, konnte sie es wirklich glauben. Doch je länger sie dort oben stand und von dem Blitzlichtgewitter der Fotografen geblendet wurde, desto merkwürdiger fühlte sie sich. Ihr wurde ganz heiß und alles um sie herum wurde immer undeutlicher und begann sich zu drehen – immer und immer schneller –, bis ihr ganz schwarz vor Augen wurde, sie das Gleichgewicht verlor und fiel.
* * *
Plötzlich war es ganz still im Internat – man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Geschockt blickten Lehrer und Schüler in den Fernseher. Keiner hatte so etwas erwartet. Wirklich jedem der Anwesenden ging nur eine einzige Frage durch den Kopf: Was ist da bloß passiert? Herr Maier war so überstürzt aufgesprungen, dass sein Stuhl mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufgeschlagen war. So schnell er konnte, lief er in Begleitung einiger Kollegen in das Büro des Direktors, nahm dort den Hörer des Telefons zur Hand und wählte hastig eine Nummer. Es dauerte einen Moment, ehe sich am anderen Ende Herr Hongo meldete.
»Was ist passiert? Wie geht es ihr?«
»Das weiß ich selbst noch nicht. Wir sind gerade auf dem Weg ins Krankenhaus. Soweit ich mehr weiß, rufe ich zurück.«
Langsam legte der Lehrer den Hörer wieder auf und richtete sich mit schüttelndem Kopf seinen Kollegen zu, die sofort wussten, was er ihnen damit sagen wollte.
Genau in diesem Moment betraten Dorothea und Theresia den Raum, die diese Geste scheinbar falsch verstanden hatten und mit zitternder, fast weinender Stimme sagte Doro: »Wir wissen, wer Jana dieses Zeug in die Flasche getan hat. Aber wir wollten nie, dass ihr so etwas zustößt.«
Auch wenn Herr Maier ihr Klassenlehrer war und sich eigentlich um diese Angelegenheit hätte kümmern müssen, hatte er jetzt keinen Nerv dafür. Erst einmal musste er wissen, was mit Jana war, bevor er sich anderen Dingen widmen konnte.
»Wir kümmern uns darum«, meinten einige der Lehrer und folgten den beiden Mädchen.
Die Warterei zog sich ins Unendliche. Wie gebannt starrte Herr Maier auf das Telefon, das einfach nicht klingeln wollte. Erst als sich wenige Minuten später die Tür öffnete, wurde seine Aufmerksamkeit auf Isabell gelenkt, die soeben das Zimmer betreten hatte. »Wie geht es Jana?«, wollte das Mädchen von ihrem Lehrer wissen.
Niedergeschlagen und besorgt wandte er seinen Blick von ihr ab, schaute wieder zum Telefon und sagte mit leiser Stimme: »Ich weiß noch nichts Genaues. Aber wenn du magst, kannst du hierbleiben und mit mir auf Herrn Hongos Anruf warten.«
Schweigend setzte sich Izzy also neben ihren Lehrer auf den freien Stuhl. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde auch sie nervöser. Nur das Ticken der Standuhr war zu hören, so ruhig war es. Dann endlich klingelte das Telefon und ließ die beiden Wartenden heftig zusammenzucken. Blitzschnell hob Ralf ab und ohne erst zu fragen, wer am anderen Ende der Leitung war, fragte er: »Wie geht es ihr?«
»Es geht ihr gut. Sie hatte nur einen Schwächeanfall und schläft jetzt erst einmal. Die Aufregung war einfach zu viel für sie«, antwortete der Direktor.
»Nur ein Schwächeanfall? Wir sind fast umgekommen vor Sorge. Sie hätten Jana einfach nicht mitnehmen sollen.«
Er ging auf den Vorwurf nicht ein, erklärte stattdessen: »Die Ärzte hier gehen nicht davon aus, dass das die Nachwirkungen der Drogen waren. Aber um wirklich sicher zu gehen, muss sie die Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Deshalb werden wir morgen erst am späten Nachmittag zurück sein.«
Isabell, die alles mit angehört hatte, war erleichtert. Immerhin war ihrer Freundin nichts wirklich Schlimmes zugestoßen. Als sie jedoch aufstand, um zu gehen, bemerkte sie, dass Herr Maier immer noch genauso besorgt und niedergeschlagen aussah, wie noch vor wenigen Minuten. »Jana geht es doch gut«, sagte das Mädchen verwirrt. »Und Sie hätten das alles auch nicht verhindern können.«
»Oh doch, das hätte ich. Ich bin euer Lehrer und für euch verantwortlich. Ich hätte sie niemals mitfahren lassen dürfen.«
Er schlug die Hände vors Gesicht und Izzy wusste, auch ohne dass er es aussprach, dass er sich Vorwürfe machte und jetzt alleine sein wollte. Auch wenn die Ärzte anderer Meinung waren, glaubte Ralf Maier ganz fest daran, dass die beiden Vorfälle im Zusammenhang standen. Hatte er als Lehrer versagt? Es war seine Aufgabe als Klassenlehrer zu verhindern, dass es zum Streit zwischen den Mädchen seiner Klasse kam. Vielleicht hätte er Janas ersten Zusammenbruch nicht verhindern können, aber den zweiten ganz bestimmt. Hätte er doch nur nicht so schnell aufgegeben!
Was er allerdings nicht wusste, war, dass er Jana niemals hätte von ihrem Vorhaben abbringen können, nicht einmal Isabell hätte das geschafft. Denn nicht nur ihre smaragdgrünen und bezaubernden Augen hatte das Mädchen von ihrem Vater geerbt, sondern auch dessen Dickkopf.
Der Unterricht an diesem Vormittag war alles andere als interessant, vor allem für Isabell. Nachdenklich blickte sie immer wieder zu dem freien Platz neben sich, auf dem jetzt eigentlich Jana hätte sitzen müssen. Zwei Tage waren schon vergangen, seit Herr Hongo in der Schule angerufen hatte und Isabell machte sich immer größere Sorgen um ihre Freundin. Plötzlich sprang sie auf und lief zur Tür.
»Die Stunde ist noch nicht vorbei, Isabell. Würdest du dich bitte wieder setzen!«, rief Herr Maier ihr hinterher.
Doch das Mädchen hörte nicht, öffnete die Tür und lief weiter. Nun sprang auch Dorothea auf und rannte Izzy hinterher. »Könnt ihr mir mal verraten, was in euch gefahren ist?« Herrn Maier riss allmählich der Geduldsfaden. »Sie sind wieder da!«, rief Doro ihm noch über die Schulter zu und verschwand ebenfalls.
Izzy erreichte den Korridor in dem Moment, als die drei durch die Pforte schritten, und fiel Jana freudestrahlend um den Hals. »Du bist wieder da, endlich«, schniefte sie.
»Was ist denn hier los? Wenn ich mich nicht täusche, solltet ihr doch noch im Unterricht sitzen«, durchbrach Herr Hongo die rührselige Szene, blickte von Izzy zu Doro, die nur wenige Meter entfernt stand, jetzt aber ebenfalls auf Jana zu trat. »Jana, es tut mir so so leid. Wenn ich gewusst hätte, was …«
»Dafür ist später noch genug Zeit«, unterbrach Hongo. »Ihr zwei macht euch jetzt sofort wieder in den Unterricht! Und Jana, du gehst auf dein Zimmer! Du hast noch zwei Tage Bettruhe.«
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