Der hintere Teil der kleinen Wohnung bestand aus einer Fensterfront und als es draußen allmählich dunkler wurde, wurde es auch um David herum düster. Er machte kein Licht an, sondern blieb einfach liegen. Irgendwann schlief er ein und wachte erst auf, als es erneut taghell in dem Raum war.
Gespannt auf den ersten Tag seiner Ausbildung sprang David aus dem Bett. Er vermutete dass es noch sehr früh war und so begann er sich seine Wohnung genauer anzusehen. Alle Möbel sahen aus wie neu und waren zwar modern, aber schlicht. In dem Badezimmer lagen frische Handtücher bereit, auf den hellen Fliesen befanden sich kleine weiche Teppiche in runder Form und es gab einen großen Spiegel über dem Waschbecken. David sah nach dem Aufstehen lange hinein und betrachtete sich. Sein Teint wirkte frisch und etwas rosig, seine blauen Augen funkelten im Licht, seine hellbraunen Haare sahen frisch gestylt aus, obwohl er gerade erst aufgestanden war. Allerdings konnte er keinerlei Verletzungen oder sonstige Hinweise auf seinen Tod entdecken. Keine Kratzer, kein Blut, keine blauen Flecken. ›Vielleicht können sie hier unser Aussehen manipulieren‹, überlegte David.
Als nächstes sah er sich den Einbauschrank neben seinem Bett genauer an. Er war recht groß, jedoch nur zur Hälfte gefüllt, und zwar mit ausschließlich heller Kleidung. Unschlüssig stand er davor und überlegte, ob erwartet wurde, dass er in dieser Kleidung in der Akademie auftauchte. Zunächst entschied er sich dagegen, sich umzuziehen. Noch wollte er etwas von seinem alten Leben bei sich haben.
Das mit Abstand Interessanteste war für David die Küchenzeile. In den drei unteren Schränken fand er Schalen und Messbecher in verschiedenen Größen, als auch Besteck und alle möglichen Kochutensilien. In Augenhöhe hingen mehrere Regale, auf denen fein säuberlich Gefäße mit Kräutern und vielerlei anderen Zutaten aufgereiht waren. Neben einer Spüle und zwei Kochplatten bestand die Küchenzeile aus einer breiten Arbeitsplatte, gefertigt aus massivem Material.
Gerade stand David an der Fensterfront und versuchte etwas durch den davor wabernden Nebel zu erkennen, als es klopfte. Ephraim stand vor der Tür und wollte ihn für die Akademie abholen.
David bat ihn kurz herein und öffnete den Kleiderschrank. »Soll ich mir Sachen aus dem Schrank anziehen? Oder ist es in Ordnung, wenn ich meine irdische Kleidung noch an lasse?«
»Das ist ganz dir überlassen. Manche Neuankömmlinge wollen mit ihrem alten Leben abschließen und sofort etwas anderes anziehen. Andere hingegen sind froh, wenn sie noch eine Erinnerung an die Erde haben. Auch später ist die Kleidung keine Vorschrift, aber sie ist sehr bequem, das ist beim Retten Gold wert.«
David schloss den Schrank wieder. »Dann bleibe ich für heute so – ich möchte gerne etwas von meinem alten Leben bei mir haben, wenn heute noch mehr Neuigkeiten auf mich einprasseln. Ich denke ich werde etwas von früher bei mir haben wollen, wenn mein Kopf endlich realisiert, dass ich tot bin. Mein Herz hat es schon akzeptiert, glaube ich.«
Ephraim nickte. »So ging es mir damals auch. Hast du noch Fragen, oder können wir zur Akademie aufbrechen?«
»Wir können aufbrechen, dringende Fragen habe ich momentan nicht.«
Und so machten sie sich auf den Weg. Ephraim übernahm den Transport.
»Wenn du dir genug Details der Akademie eingeprägt hast, kannst du es versuchen. Heute, wo du bisher nur ein Mal dort warst und vielleicht etwas aufgeregt bist, würde es mit Sicherheit nicht funktionieren. Aber das ist vollkommen normal.«
Der Nebel verdichtete sich, so wie David es nun schon mehrmals erlebt hatte, und als die Sicht wieder klarer wurde, erkannte er den Campus. Allerdings sah er heute komplett anders aus als am Vortag. Die Wiese war gefüllt mit Savers, die ihre Flügel zeigten, und vielen Neuankömmlingen, die man daran erkannte, dass sie keine Flügel hatten.
Die Flügel der Savers sahen sehr unterschiedlich aus. Einige hatten, wie Ephraim und Elaine, goldene Flügel, andere silberne und es gab auch welche, deren Flügel bronzefarben waren. Die meisten hatten jedoch weiße Flügel, teilweise mit nur wenigen Federn.
»Nun ja, das ist ein typischer Anblick des Campus am ersten Tag der frischen Neuankömmling-Klasse«, erklärte Ephraim mit ausladender Armbewegung. »Alle Flügelträger sind schon etwas länger dabei. Man kann an der Farbe erkennen, wie erfahren die jeweiligen Savers sind. Die ersten Federn, die den Neuankömmlingen wachsen, sind weiß. Nach einiger Zeit fallen die Weißen allmählich aus und es wachsen bronzefarbene nach. Als Nächstes werden die Federn silbern. Wenn man schließlich so lange im Dienst ist wie Elaine oder ich, erhalten die Federn eine goldene Farbe. Bei mir sind erst vor Kurzem die letzten silbernen Federn ausgefallen.«
David nickte gedankenverloren und sah sich weiter um. Er konnte sich gar nicht sattsehen an den vielen Unbekannten. Ihm fiel auf, dass die meisten Neuankömmlinge ebenfalls Erden-Kleidung an hatten.
Langsam gingen sie in Richtung des Eingangs der Akademie. Diejenigen Savers mit weißen, teilweise nur wenigen Federn, schienen noch in der Ausbildung zu sein. Einige von ihnen standen in kleinen Gruppen und redeten, das Geschehen um sie herum schien sie nicht zu interessieren.
Die anderen Neuankömmlinge waren bunt gemischt. Es gab einige sehr junge, wie David, allerdings auch viele ältere. Manche schienen Euphoria gegenüber sehr offen zu sein, andere wirkten ähnlich verstört wie Adrian am Tag zuvor. Als sie ungefähr die Hälfte der Wiese überquert hatten, blieb er wie angewurzelt stehen. Er traute seinen Augen nicht, wer da nur wenige Meter von ihm entfernt stand.
»Sally?«, rief er schrill.
Sally drehte sich ruckartig um und blickte suchend umher. Sobald sie ihren Zwillingsbruder entdeckt hatte, rannte sie los und sprang ihm ungebremst in die Arme. David taumelte ein paar Schritte rückwärts.
Beide schluchzten einige Sekunden in das Ohr des anderen, bevor David seine Schwester auf die Beine stellte, von sich schob und sie ernst anblickte.
»Warum treffen wir uns hier? Was ist mit dir passiert?«
Sally holte tief Luft und blickte zu Boden. »Es war an dem Abend der Party. Ich war spät dran und habe mich von Jake nach Hause fahren lassen. Im Nachhinein denke ich, dass er getrunken hatte, denn er verlor kurz die Kontrolle über seinen Wagen und dann stießen wir mit einem anderen Auto zusammen. Das war bei dem Waldstück, in dem wir früher immer gespielt haben. Dabei bin ich angeblich gestorben.«
»Das gibt es doch gar nicht. Rate mal, wer mit euch zusammengestoßen ist. Cathy und ich«, klärte David sie auf.
Sally riss die Augen auf. »Ist Cathy auch hier?«
»Ich habe sie bisher nicht gesehen«, entgegnete ihr Zwilling. Dann blickte er fragen seinen Mentor an, der das Wiedersehen der Geschwister mit einem sanften Lächeln verfolgt hatte. Abwehrend hob er die Arme.
»Tut mir leid, ich darf euch über solche Sachen keine Auskunft erteilen. Meistens werden wir über Zusammenhänge zwischen den Neuankömmlingen auch gar nicht informiert. Nur bei euch wussten wir Bescheid. Nicht wahr, Amanda?«
Nun trat eine Frau mit silbernen Flügeln an sie heran. Sie hatte lange blonde Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fielen. Um ihre blauen Augen bildeten sich kleine Fältchen wenn sie lächelte, Nase und Wangen waren mit Sommersprossen übersät.
Sie streckte David ihre Hand entgegen und strahlte ihn dabei an. »Hi – ich bin Amanda und seit gestern die Mentorin deiner Schwester. Freut mich dich kennenzulernen.«
David ergriff ihre Hand und schüttelte sie, danach wandte er sich jedoch sofort wieder Sally zu. Amanda und Ephraim ließen die beiden Geschwister sich austauschen und gingen ein paar Schritte zur Seite.
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