Die meisten Neuankömmlinge, die bisher im Raum versammelt waren, hatten sich in den hinteren Reihen verteilt, vorne saß nur ein blonder Mann, der auf der Erde etwa 20 Jahre alt gewesen sein mochte. David hatte gerne den Überblick, wollte aber auch alles mitbekommen, was sie gleich erfahren würden, also war sein zentraler Platz eine gute Wahl, fand er.
Es dauerte noch einige Minuten, bis alle Plätze belegt waren. Sally kam als eine der letzten in den Raum hinein und sah sich suchend nach ihrem Bruder um. Allerdings waren nur noch Stühle in den ersten beiden Reihen frei, und so setzte sie sich, nachdem sie mit David ein Schulterzucken ausgetauscht hatte, zwischen einen jungen Mann, etwa Mitte Zwanzig, und ein Teenie-Mädchen.
Nun betrat ein Mann mit weißem Umhang, einer der Ältesten, den Raum, und sofort wurde es mucksmäuschenstill. Der Mann ließ kurz den Blick über die Neuankömmlinge schweifen, murmelte etwas vor sich hin, und ging hinüber zu den Mentoren, um sie zu begrüßen und vereinzelt ein paar Worte zu wechseln.
Als ein Mann, etwa in Davids und Sallys Alter, zur Tür hereinstürmte, sein Mentor mit verärgertem Gesicht dicht auf den Fersen, wandte sich der Älteste wieder von der Gruppe der Mentoren ab.
Der junge Mann hatte dichte blonde Locken und strahlend blaue Augen. Es war nur noch ein freier Platz übrig, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in die erste Reihe zu setzen. Mit einem Schnaufen ließ er sich auf den Stuhl nieder, neben ihm der Mann, der schon zu Beginn in der ersten Reihe Platz genommen hatte.
Der Mentor des Mannes machte entschuldigende Gesten, als der Älteste an ihm vorbeilief, und begab sich dann zu den anderen. Er schien Ephraim und Elaine gut zu kennen, denn sie begrüßten sich mit einer Umarmung.
Während dieser Szene hatte es vereinzelt Gemurmel gegeben, doch nun, als der Älteste an dem Rednerpult stand und mit strengem Gesichtsausdruck in die Runde sah, war erneut kein Ton zu hören.
»Herzlich willkommen in Euphoria«, sagte er mit fester Stimme, sodass jeder im Raum ihn klar und deutlich hören konnte. »Mein Name ist Julius und ich bin der Dekan dieser Akademie. Ihr habt mich alle bereits gesehen, denn ich bin Mitglied des Ältestenrats.«
David sah aus dem Augenwinkel, dass Sally sich in seine Richtung drehte. Sie deutete auf Julius und fuchtelte mit den Händen, während sie mit dem Mund stumme Worte formte, David konnte jedoch nicht von ihren Lippen ablesen, was sie ihm sagen wollte.
Sally drehte sich wieder um und sah, dass Julius sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Sie murmelte ein »Verzeihung« und setzte sich auf ihre Hände. David glaubte ein kurzes Schmunzeln auf Julius' Gesicht erkennen zu können, bevor er fortfuhr.
»Warum ihr hier seid, habt ihr mittlerweile schon erfahren und hattet bereits ein wenig Zeit darüber nachzudenken. Jeder geht anders mit dieser Veränderung um. Manche sind zutiefst schockiert über ihren Tod, andere irritiert die Tatsache, dass es Schutzengel gibt, und denken erst einmal darüber nach, was es sonst noch für überirdische Wesen geben mag.« Vereinzelt war Gekicher unter den Anwesenden zu hören.
»Jeden, dem das hier nicht geheuer ist, kann ich beruhigen: Es zwingt euch keiner, hierzubleiben. Wir würden uns natürlich sehr freuen, wenn wir euch halten könnten, aber einen Saver, der sich hier nicht wohl fühlt, auf Dauer zu sehr seinem irdischen Leben nachtrauert oder sich anderweitig nicht zu Hundert Prozent auf seine Arbeit konzentrieren kann, den können wir hier, hart gesagt, nicht gebrauchen.«
David ließ seinen Blick über die Sitzreihen schweifen. Es wirkte so, als hätten sich unter den Neuankömmlingen schon in dieser kurzen Zeit Gruppen gebildet. Es gab eine große Gruppe von Älteren, die nach Davids Schätzung die 60 schon deutlich überschritten hatten. Sie saßen im vorderen Drittel rechts von David und Adrian. Die meisten von ihnen waren wahrscheinlich eines natürlichen Todes gestorben, vermutete David. Viele von ihnen blickten aufmerksam zu Julius und wirkten sehr gelassen. Einige nickten bei Julius Worten.
Links hinter David saßen viele Neuankömmlinge, die mittleren Alters zu sein schienen. Sie wirkten nicht so sehr wie eine Einheit, wie es bei der älteren Generation der Fall war, jedoch hatten sich die meisten schon in Zweier- oder Dreiergruppen zusammengesetzt.
Zwischendrin saßen immer mal wieder, vereinzelt oder ebenfalls in kleinen Gruppen, Vertreter der jüngeren Generation.
»Hört euch diese Einführungsveranstaltung in aller Ruhe an, und entscheidet dann, ob ihr in Euphoria bleiben und euch zu einem Saver ausbilden lassen wollt, oder nicht. Wenn ihr kein Saver werden wollt, dann sprecht bitte eure Mentoren an, sie werden alles Weitere für euch in die Wege leiten.« Dabei deutete er in Richtung der Mentoren.
»Doch auch zu einem späteren Zeitpunkt eurer Ausbildung könnt ihr euch zum Gehen entschließen, auch wenn ihr bereits aktiver Saver seid. Gerade bei der älteren Generation kommt erfahrungsgemäß irgendwann der Zeitpunkt, an dem einfach in Frieden ruhen wollen – und dagegen ist auch absolut nichts einzuwenden. Habt keine Scheu vor dieser Entscheidung. Als Saver muss man immer mit voller Konzentration bei der Sache sein. Wenn dies nicht der Fall ist, seid bitte so fair und hört von selbst auf. Rausschmeißen können wir in der Regel keinen.«
Einige Mentoren versuchten Blickkontakt zu ihren Lehrlingen aufzunehmen. Davids Blick traf den von Ephraim und er warf ihm ein zufriedenes Lächeln zu.
Nun trat Julius hinter dem Rednerpult hervor und schritt in die Mitte des Sandplatzes.
»Bevor es mit Erklärungen weitergeht, möchte ich gerne, dass sich jeder von euch kurz vorstellt, mit Name, Alter vor dem Tod und Interessen, die ihr auf der Erde hattet. So bekommen wir alle einen ersten Eindruck von euch und ihr könnt untereinander besser Kontakte knüpfen. In den meisten neuen Klassen bilden sich recht schnell Gruppen von Leuten mit gleichen Interessen, die später zusammen das im Unterricht Gelernte üben. Fangen wir doch am besten hier vorne links an«, sagte er und stellte sich vor einen älteren schwarzen Mann in der ersten Reihe.
Dieser drehte sich in seinem Stuhl kurz um und nickte grüßend in den Raum bevor er sich vorstellte. »Guten Morgen zusammen, ich heiße William, bin 71 Jahre alt gewesen, bevor ich an einem Herzinfarkt starb. Ich habe in der Nähe von Washington D.C. gelebt und war Zeit meines Lebens Versicherungsvertreter. Meine Frau und ich konnten keine Kinder bekommen, deswegen hatten wir mehrere Patenkinder in Afrika.« Als er geendet hatte, nickte er kurz seinem Sitznachbarn zu, um ihm zu bedeuten, dass er sich nun vorstellen könne. Auch diesmal war es ein alter Mann. Er stand auf, verbeugte sich leicht und stellte sich stehend vor. »Howard, freut mich euch kennenzulernen. Ich habe es bis in das hohe Alter von 95 Jahren geschafft und bin an einem Leberversagen gestorben. Ich weiß nicht, ob es anderen in meinem Alter auch so geht, aber hier fühle ich mich wieder wie Zwanzig. Wenn nur nicht die vielen Falten wären.« Dabei grinste er über das ganze Gesicht und aus der Ecke mit den alten Neuankömmlingen gab es Beifall.
So stellte sich nacheinander jeder kurz vor. Sally schien sich derweil sehr gut mit ihrer Sitznachbarin zu verstehen – Violet, wie sie sich kurz darauf vorstellte. Sie sah ein wenig aus wie eine Punkerin, hatte zerfetzte Hosen an, einen Nasenring und kinnlange, lila gefärbte Haare. Sie war erst fünfzehn Jahre alt und hatte scheinbar in schwierigen Verhältnissen gelebt, musste sich um ihre kleineren Geschwister kümmern.
Generell hatte David den Eindruck, dass er hier gerade eine soziale Elite kennenlernte, denn jeder hatte sich als Mensch verstärkt für andere eingesetzt. ›Aber so muss es wohl auch sein, wenn Schutzengel ausgesucht werden‹, überlegte David weiter.
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