»Elaine«, rief Ephraim und winkte. Die Savers-Frau ließ suchend ihren Blick über das Gelände schweifen und winkte dann ebenfalls, als sie Ephraim erkannte. Sie packte ihren Lehrling am Arm und zog ihn hinter sich her in Richtung David und Ephraim.
»Hallo Ephraim«, sagte sie strahlend, als sie in Hörweite war. Dann musterte sie David und stellte sich lächelnd vor. »Hi, mein Name ist Elaine. Ich war zu der gleichen Zeit Neuankömmling als auch Ephraim angefangen hatte. Das heißt ich kenne deinen Mentor schon so lange er hier in Euphoria ist.« Dabei sah sie wieder zu Ephraim und grinste ihn an. Ephraim strahlte. Er schien fast in Elaines Augen zu versinken, fand David und musste schmunzeln.
»Hallo, ich bin David. Es freut mich dich kennenzulernen«, antwortete er. Dann fiel sein Blick auf Elaines Lehrling.
»Hi. Du bist bestimmt auch ein Neuankömmling, oder?«,fragte er den sich immer noch verwirrt umschauenden Mann. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass er nicht mehr mit Elaine alleine war. Seine Augen weiteten sich, als er David sah, und erst recht als er Ephraim mit seinen Schwingen erblickte. Er brachte kein Wort heraus.
Elaine schaute ihn mitleidig an und setzte zu einer Erklärung an. »Das ist mein neuer Lehrling Adrian. Wir sind gerade von dem Ältestenrat wieder zurück gekommen. Ich musste ihn regelrecht hinein- und vor die Ältesten schieben. Er ist so, seit er aufgewacht ist und ich gesagt habe, dass er gestorben und nicht mehr auf der Erde sei. Manchmal brabbelt er zusammenhanglose Sachen vor sich hin, jedoch keine Fragen, keine Reaktion wenn ich ihn anspreche – nichts.«
David trat einen Schritt näher an Adrian heran und versuchte ihm ein paar Worte zu entlocken.
»Hey, ich bin auch neu hier. Ganz schön heftig, die ganze Sache, oder? Mein Verstand sagt mir eigentlich, dass das gar nicht sein kann, aber für einen Traum ist es zu real. Und ich kann mich sogar daran erinnern, dass ich einen Autounfall hatte – also der Teil stimmt zumindest. Dass ich dabei gestorben bin habe ich noch nicht realisiert, denke ich. Aber man kann sich ja mal drauf einlassen. Wenn es doch ein Traum ist, wachen wir irgendwann auf. Wenn nicht, gammeln wir wenigstens nicht in einem Sarg unter der Erde 'rum.« Er redete ohne Punkt und Komma, doch Adrian schien ihn gar nicht zu hören. Fast schon verstört sah er zu dem großen Gebäude vor ihnen und wieder zu dem Nebel zurück. Er sah nur ein paar Jahre älter aus als David, hatte hellbraune Haare und grüne Augen.
»Da fällt mir aber noch eine Frage ein«, sagte David und drehte sich zu Ephraim um. Wie ist das mit unseren sterblichen Überresten? Liegt mein altes Ich noch unten auf der Erde, oder wurde ich herauftransportiert und wiederbelebt?«
Elaine staunte. »Wow«, sagte sie an Ephraim gewandt. »Dein Neuankömmling kommt echt super mit Euphoria zurecht. Bis mir solche Fragen eingefallen sind, war ich schon mehrere Wochen hier.«
Stolz betrachtete Ephraim seinen Lehrling und setzte zu einer Antwort an. »Das ist in der Tat eine sehr fortgeschrittene Frage. Wie es genau gemacht wird, ist das Geheimnis des Ältestenrats. Ich kann nur so viel verraten, dass du, also derjenige David, der all die Jahre auf der Erde gelebt hat, jetzt hier bist. Wenn allerdings jemand deinen Sarg exhumieren würde, dann würde man deine Leiche noch sehen. Ich nehme an es funktioniert ähnlich wie die Tarnung unserer Flügel. So, jetzt wollen wir uns aber die Eingangshalle des Hauptflügels ansehen«, schloss er und drehte sich zu der Akademie um. Elaine tat es ihm gleich, jedoch nicht ohne noch einen letzten besorgten Blick auf Adrian zu werfen.
»Ich kann mein Glück ja noch einmal versuchen«, schlug David vor und packte Adrian sanft am Arm. Er redete einfach los, darüber, was ihm momentan durch den Kopf ging, und zog Adrian dabei hinter sich her, während er wie die beiden Savers in Richtung des Gebäudes lief. Doch plötzlich spürte er einen Widerstand. Adrian bedeutete David, dass er anhalten solle. Als David sich überrascht umdrehte, stand Adrian ihm näher als er erwartet hatte. Im Flüsterton fragte er: »Ich weiß, dass das kein Traum ist. Aber was sind das hier für Leute? Glaubst du denen wirklich, dass sie Schutzengel sind?«
Ängstlich schaute er an David vorbei in Richtung Ephraim und Elaine. Die beiden schienen nicht bemerkt zu haben, dass ihre Lehrlinge stehen geblieben waren. Fast waren sie an der Treppe zu dem Eingang der Akademie angelangt.
»Ich habe furchtbare Angst davor, was sie mit uns machen werden. Was ist, wenn wir gar nicht tot sind, sondern sie uns entführt haben und jetzt davon ablenken wollen, dass sie grausame Experimente mit uns vorhaben? So wie bei den Schweinen, weißt du? Bevor die geschlachtet werden, betäuben sie sie erst, damit sie nicht panisch werden. Das würde man später an dem Fleisch merken.«
Irritiert blickte David ihn an. Solch ein Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Misstrauisch sah er sich zu Ephraim und Elaine um. Nun bemerkten auch sie, dass Adrian und David die Köpfe zusammengesteckt hatten. Doch es schien sie nicht zu beunruhigen, denn sie unterhielten sich einfach weiter.
»Das glaube ich nicht. Das wäre doch viel zu aufwendig, auch mit diesem Ältestenrat und dieser Prophezeiung. Komm, wir schauen uns mal diese Akademie an, und danach sehen wir weiter. Mein Mentor hat mir gesagt, man könne sich auch gegen die Aufgabe als Schutzengel entscheiden.«
Mit diesen Worten wollte David Adrian weiterziehen, doch dieser hielt dagegen.
»Aber was, wenn sie das wollen? Wenn sie uns in dieses Gebäude locken wollen, um uns dann zu überwältigen?«
David biss sich auf die Unterlippe und überlegte kurz. Eigentlich war ihm mehr zum Lachen zu Mute, doch er wollte nicht dass Adrian dachte, er mache sich über ihn lustig. »Sie hätten uns doch gar nicht erst aufwecken müssen, wenn sie Experimente mit uns machen wollen würden. Und auch wenn es eine komische Vorstellung ist, nach dem Tod noch einmal zu leben – war die letzte Situation, an die du dich vor dem hier erinnern kannst, nicht auch etwas lebensbedrohliches?«
Adrian ließ David los und zuckte mit den Schultern. »Eigentlich hatte ich nur eine simple Blinddarm-Entfernung. Doch aufgewacht bin ich nicht in einem Krankenzimmer, sondern hier. Da ist wohl irgendetwas schief gelaufen...«
Elaine und Ephraim hatten inzwischen bemerkt, dass sich ihre Lehrlinge angeregt unterhielten.
»Alles in Ordnung?«, rief Ephraim herüber.
David zeigte einen nach oben gestreckten Daumen.
»Los, wir sehen uns das mal an. Oder zumindest ich werde das jetzt tun. Du kannst ja hier stehen bleiben, wenn du nicht willst.«
Mit diesen Worten setzte sich David in Bewegung. Nur kurz darauf hörte er ein Schnaufen und Adrian schloss zu ihm auf.
»Aber wunder' dich dann nicht, wenn wir uns als Nächstes in Käfigen gegenüber sitzen und unsere Köpfe mit Dioden übersät sind«, setzte er beleidigt hinzu.
Ephraim lächelte, als David und Adrian sie erreichten. »Da seid ihr ja. Herzlich willkommen, Adrian. Du kannst ja doch sprechen«, scherzte er augenzwinkernd.
»Es dauert nicht lange, dann lassen wir euch für heute in Ruhe«, versprach Elaine und ging die Treppe hinauf, um den anderen die Tür aufzuhalten.
Kaum eingetreten, blieben die beiden Neuankömmlinge mit offenen Mündern in der Eingangshalle stehen.
Ähnlich wie das Ratsgebäude hatte auch das Haupthaus der Akademie ein Oberlicht, das aus einem riesigen kuppelförmigen Fenster bestand. Hier konnte man ebenfalls von mehreren Etagen aus in den Eingangsbereich hinabschauen. Allerdings war dieser viel pompöser und aufwändiger gestaltet als der des Gebäudes, in dem der Ältestenrat tagte.
Links und rechts der Eingangshalle, führten breite Seitentreppen in den ersten Stock hinauf. Der Platz, der sich zwischen diesen Treppen befand, wurde komplett von einem riesigen Springbrunnen ausgefüllt, der aus weißem Marmor gefertigt und kunstvoll verziert war. Das Hauptelement des Brunnens war eine große Statue eines Mannes mit Umhang. Er hatte Flügel, kurze Haare und viele Falten um die Augen. Mit einer Hand deutete er zu dem Fenster in der Decke hinauf, mit der anderen machte er eine Handbewegung, als wolle er etwas präsentieren. Seine obere Hand befand sich in etwa auf Höhe des dritten Stockwerks.
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