»Nur Mut – es wirkt zuerst seltsam, ist hier aber vollkommen normal. Es gehört zu unserer Art uns fortzubewegen.«
David wurde mehr von seinem Mentor nach draußen geschoben, als dass er selbstständig ging, und kam kurz hinter der Tür wieder zum Stehen. Ephraim folgte ihm und schloss die Tür hinter ihnen. Ungläubig lugte sein Lehrling von einer Seite auf die andere und streckte die Hand nach dem dichten Nebel aus.
»Ich habe eine erste Aufgabe für dich. Sieh dir deine Eingangstür ganz genau an. Du wirst es bald brauchen. Unter Tausend Türen müsstest du diese hier sofort erkennen können.«
David drehte sich um und betrachtete seine Tür. Sie war schlicht, ohne Verzierung oder Glas-Elementen, jedoch makellos, als wäre sie ganz neu. Die Farbe war ein helles Blau und die Klinke war silbern und leicht geschwungen. Von der weißen Wand um die Tür herum konnte man nur wenig sehen, denn schon nach ein paar Zentimetern wurde die Tür von Nebel umrahmt. Doch in Augenhöhe war rechts neben der Tür ein durchsichtiges Schild installiert, auf dem in schwarzen Lettern ›David Summers‹ geschrieben stand.
David nickte und lächelte. »Die erkenne ich wieder.«
»Es reicht allerdings nicht, wenn du sie nur wieder erkennst – du musst sie dir vorstellen können, und zwar mit allen Einzelheiten«, entgegnete Ephraim.
Nochmals blickte David auf die Tür und das Namensschild. »Ja, ich habe mir alles gemerkt«, bestätigte er nach ein paar weiteren Sekunden. »Wozu ist das wichtig?«
»Das werde ich dir später erklären«, entgegnete Ephraim. »Jetzt zeige ich dir zuerst unser Ratshaus.«
Mit diesen Worten legte er David eine Hand auf die Schulter und sofort begann der Nebel noch dichter zu werden, sodass man buchstäblich die eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Ephraims Hand konnte er noch auf seiner Schulter spüren, doch bevor er sich dazu entschloss, ihn zu fragen, was es mit diesem dichten Nebel auf sich hatte, wurde die Sicht besser und sie standen vor einem großen Gebäude, dessen Vordach von vier Säulen gestützt wurde. Eine lange Treppe führte zu dem Eingangsportal hinauf und auf jeder zweiten Stufe standen dezent arrangierte Pflanzen in Blumentöpfen.
»Nun, das ist es – unser Ratshaus«, begann Ephraim zu erklären. »Euphoria wird von einem Ältestenrat bestehend aus zehn Mitgliedern überwacht und geleitet. Dies ist der Ort, an dem sie regelmäßig tagen und wo man täglich zumindest einige von ihnen antreffen kann, wenn man Probleme hat.«
Langsam stieg er die Stufen zu der hölzernen Flügeltür empor und bedeutete David mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Während Ephraim weiter erzählte, wandte er sich hin und wieder an David, um zu prüfen, ob er ihm noch hinterherlief.
»Im Idealfall wirst du diesen Ort kaum zu Gesicht zu bekommen, denn wenn du hier bist, bedeutet das meistens, dass etwas nicht so läuft wie vorgesehen oder dass du in Schwierigkeiten bist.«
»Was können das zum Beispiel für Schwierigkeiten sein?«, unterbrach ihn David und sah interessiert an dem Haus hinauf.
Ephraim überlegte kurz. »Beispielsweise wenn dein Schützling vor seiner Zeit gestorben ist, obwohl du ihn hättest retten können. Oder wenn du gegen eine der Regeln verstoßen hast, die von dem Ältestenrat aufgestellt wurden und deren Einhaltung rund um die Uhr überprüft wird. Aber es gibt auch weniger bedenkliche Anlässe, zum Beispiel wie bei uns gerade. Du bist hier, weil du ein Neuankömmling bist, und ich habe mit dir einen neuen Lehrling bekommen. Sie wollen vor Beginn der Ausbildung jedem von euch ein paar persönliche Worte mit auf den Weg geben.«
Mittlerweile hatten sie die Eingangstür erreicht und Ephraim hielt eine Seite der Flügeltür auf, damit David hindurchgehen konnte. Der Flur, der sich hinter der Tür zu beiden Seiten erstreckte, war wie ausgestorben. Ein langer, lichtdurchfluteter Gang, da die Außenwand mit vielen Fenstern bestückt war. Auf der anderen Seite gingen mehrere Türen ab. Einige Pflanzen standen zur Zierde in den Ecken und neben den Türen.
Geradeaus gelangte man in eine große Halle mit Deckenlicht, in der sich auf der rechten Seite ein breiter Empfangstresen aus Marmor befand. Hinter dem Tresen saß eine junge Frau, hell gekleidet und mit streng wirkender Frisur. Ephraim ging schnurstracks auf den Tresen zu, während David langsam hinterherlief und sich in der Halle umsah. An den äußeren Wänden wurde der Bereich von verzierten Marmorsäulen gestützt. Der Raum erstreckte sich über drei Stockwerke, die über eine im Vergleich zu dem Rest des Hauses schlicht wirkende Wendeltreppe im hinteren Bereich der Halle erreicht werden konnten. Von jedem dieser Stockwerke konnte man über eine Galerie, die einmal komplett um den Empfangsbereich herum ging, hinunterschauen. Hier sah David einige andere Savers, die wiederum ihn interessiert musterten.
Ephraim hatte in der Zwischenzeit mit der Empfangsdame gesprochen und kam auf David zu.
»Alles klar, wir können gleich rein gehen. Bitte folge mir«, sagte er und ging in Richtung Wendeltreppe.
Noch einen letzten Blick warf David hinauf, um sich das Deckenlicht zu betrachten. Es war ein riesiges, kuppelförmiges Fenster, in dem kleine Figuren eingraviert zu sein schienen. Doch für David war es unmöglich, sie von seiner Position aus genauer zu erkennen. Schließlich folgte er seinem Mentor die Treppe hinauf.
Als sie oben angelangt waren, standen sie vor einer massiven Holztür mit detaillierten Schnitzereien. Ephraim drehte sich zu David um und betrachtete ihn eingehend.
»Wenn du dort hinein gehst, dann versuche am besten ganz locker zu sein. Aber du wirkst sehr gefasst für einen Neuankömmling, dem man eben gesagt hat, dass er gestorben ist und es Schutzengel gibt - das ist eine gute Voraussetzung. Mach' dir einfach nicht zu viele Gedanken darüber, was die Ältesten mit ihren Fragen an dich bezwecken wollen.«
Ungläubig schaute David Ephraim an. »Du gehst nicht mit rein?«
Ephraim schüttelte mit dem Kopf. »Nein, da muss jeder Neuankömmling alleine durch.«
Dann schob er ihn Richtung Tür, klopfte kurz aber heftig an und öffnete sie, sodass David hindurchgehen konnte.
Nach dem Eintreten blieb David sofort stehen. Er hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen, dann war alles still. Der Raum, in dem er sich befand, war langgestreckt und wirkte dunkel. Von der Eingangstür aus führte ein roter Teppich durch das Zimmer, bis hin zu einem Absatz, zu dem zwei Stufen hinauf führten. Auf dem Absatz standen an der Wand zehn pompös wirkende Stühle mit hoher Rückenlehne aufgereiht, auf dem jeweils eine Person saß – der Ältestenrat.
Langsam setzte sich David in Richtung des Rates in Bewegung. Einer der mittig sitzenden Ältesten fiel besonders auf, da er eine blaue Schärpe trug. David blickte die Reihe entlang und ließ seinen Blick auf jedem Mitglied des Rates kurz ruhen. Es waren sieben Männer und drei Frauen unterschiedlichen Alters. Zwei der Männer waren Zwillinge, sie waren beide gleich groß und trugen eine Brille mit dicken Gläsern. Alle Ältesten sahen David interessiert entgegen.
Während er näher kam, stand der Mann mit der Schärpe langsam auf und strich seinen weißen Umhang glatt. Dann breitete er die Arme aus und begann mit lauter Stimme zu sprechen.
»David, herzlich Willkommen in Euphoria. Mein Name ist Jakob und ich bin der Vorsitzende dieses Ältestenrates. Dein Mentor Ephraim hat dir sicher schon einige grundlegende Fragen beantwortet. Bevor wir mit dem offiziellen Teil anfangen möchte ich dich fragen: Gibt es irgendetwas, das wir dir zu Beginn erklären können?«
Mittlerweile war David vor dem Rat der Ältesten angekommen und blieb stehen. Er ließ den Blick über alle zehn Mitglieder schweifen und sah dann Jakob in die Augen. Sie waren braun und hatten einen gütigen Ausdruck.
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