„Nein, ich werde Vater das nicht antun.“
Aber der Drang nach Freiheit und Abenteuer wurde von Tag zu Tag stärker in ihr. So oft es ihr möglich war, stand sie am Fenster und schaute den spielenden Kindern zu. Langsam kam die Traurigkeit zurück.
Als Maria eines Morgens aufwachte, war ihr etwas schwindelig. Sie durfte am Vorabend an einem Empfang ihrer Eltern teilnehmen. Das Vorspielen mit der Harfe wurde mit reichlich Beifall belohnt. Um sich selbst zu belohnen, stibitzte sie ein Gläschen Wein.
‚Das sind die Nachwirkungen, von denen mein Vater immer berichtet, wenn er etwas zu viel von dem Rebensaft getrunken hat’, glaubte sie und stand langsam auf. Mit wackeligen Knien zog sie sich an. Auf dem Weg zur Tür passierte es: Ganz langsam, wie in Zeitlupe, verlor sie das Gleichgewicht. Geistesgegenwärtig griff sie nach dem Kerzenhalter an der Wand und hielt sich gerade so auf den Beinen. Zuerst atmete sie erleichtert auf, dann hörte sie ein komisches Geräusch.
Langsam drehte sie sich zu dem Brummen um. Dann wurden ihre Augen immer größer, ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Die Holzwand in ihrer Kammer hatte sich geöffnet. Die Prinzessin starrte in ein gähnendes dunkles Loch!
„Ein Geheimgang“, seufzte Maria. Ohne mit der Wimper zu zucken, schnappte sie sich den Kerzenständer an ihrem Bett, entzündete ihn und lief vorsichtig in den Gang. In der Dunkelheit sah sie eine Treppe. Mutig betrat sie die Stufen und lief nach unten, bis sie an einer Holztür endeten. Durch die Fugen sah Maria nach draußen.
Enttäuscht sah sie in ein dichtes Gebüsch, dann hörte sie Kinderlachen. Vorsichtig drückte sie die Tür auf und steckte ihren Kopf nach draußen. Durch den Busch sah sie spielende Kinder. Die Kinder, die sie am Fenster immer beobachtete! Sie unterdrückte einen Aufschrei und zog sich wieder zurück. Hastig erklomm sie die Stufen nach oben. Außer Atem schaute sie sich den Kerzenhalter an der Wand genauer an. Mit beiden Händen drückte sie ihn nach links - und die Geheimtür schloss sich wieder! Zufrieden legte sich Maria auf ihr Bett und grübelte.
Helena betrat die Kammer und sah verwundert zur Prinzessin, die schon im Bett lag und schlief. Sie war verwirrt, denn noch nie ging die Prinzessin ohne eine Erzählung zu Bett.
‘Irgendetwas stimmt nicht. Ich werde sie im Auge behalten’, dachte sie und verließ die Kammer.
Als die Tür ins Schloss fiel, sprang Maria sofort aus dem Bett. Sie schlich zum Schrank und wühlte in den Kleidern. Nach einiger Zeit seufzte sie zufrieden und legte sich schlafen.
‚Ich habe fast alles, was ich brauche. Eine Magdhaube und einfache Schuhe fehlen noch. Die beschaffe ich mir morgen’.
Zufrieden schlief sie ein und träumte von aufregenden Abenteuern.
- -
Helena aber lag noch lange wach in ihrem Bett und überlegte, was die Prinzessin ausheckte. Immerhin war sie verantwortlich und hatte ihrem Herrn versprochen, auf sie aufzupassen.
Irgendwann schlief sie mit dem Gedanken ein, dass es schon nichts Schlimmes sein würde.
Abenteuer
Nach drei Tagen war es soweit: Die Prinzessin hatte alles, was sie für ihren Plan benötigte, beisammen. Nach dem Unterricht klagte sie über Kopfschmerzen und wollte sich heute Mittag lieber ausruhen. Besorgt stimmte Helena zu und brachte Maria in ihre Kammer. Leise schloss Helena die Tür und machte sich an die Vorbereitungen für den nächsten Unterricht. Heute würde ein Jesuitenbruder, der sich sehr gut in Geografie auskannte, eintreffen, um sein Wissen an Maria weiterzugeben.
Wenig später begrüßten Elisabeth und Helena den Jesuitenbruder. Zur Freude aller offenbarte er, im Besitz einer Tabula Rogeriana zu sein. Einer im Jahre 1154 vollendeten Weltkarte des arabischen Geographen Al-Idrisi, der mehr als achtzehn Jahre an ihr arbeitete. Helena freute sich für Maria, denn die Karte barg, verborgen in den vielen Kommentaren, unschätzbares Wissen.
Während Helena dem Jesuiten seine Kammer zeigte, war Maria schon längst aus ihrem Bett und in den Tiefen des Kleiderschrankes verschwunden.
Als sich die Schranktüren schlossen, stand plötzlich eine einfache Magd in der Kammer, die einen kleinen Spiegel aus einer Nische zog und sich darin betrachtete.
Zufrieden schmierte sie sich noch etwas Staub auf ihre Wangen und verbarg eine unbändige Locke unter ihrer Magdhaube. Dann lächelte sie zufrieden.
„So wird mich niemand als Prinzessin erkennen! Nicht einmal Mutter. Helena vielleicht. Aber sie braucht mich ja nicht zu sehen“, sagte Maria zu ihrem Spiegelbild.
Dann nickte sie zufrieden, verbarg den Spiegel in der Nische und schloss den Kleiderschrank. Selbstbewusst lief sie zur Geheimtür und öffnete sie. Mit dem Kerzenständer in der Hand betrat sie die erste Stufe der Treppe und drehte sich noch einmal um.
Mit fester Stimme sagte sie: „Jetzt beginnt mein erstes Abenteuer. Endlich!“
Mit einem Seufzer der Erleichterung schloss sie die Geheimtür von innen. Vorsichtig stieg sie eine Treppenstufe nach der anderen nach unten. Vor der großen hölzernen Tür stellte sie den Kerzenständer ab und atmete noch einmal tief durch.
Mutig öffnete sie die Tür und schlich vorsichtig nach draußen ins Ungewisse.
Nachdem sich ihre Augen langsam an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, erkannte sie ihre nähere Umgebung. Direkt hinter dem Busch vor ihr hörte sie die Kinder spielen. Jetzt wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und trat aus dem Schatten der Büsche.
Zu ihrer Rechten sah sie vier Mädchen, die mit einem Hüpfspiel beschäftigt waren. Zu ihrer Linken erblickte sie mehrere Kinder, die mit Kugeln auf dem Boden spielten.
Fasziniert schaute sie zu und erschrak, als plötzlich wie aus dem Nichts jemand vor ihr stand und „hallo“ sagte.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, hübsche Magd“, sagte ein Junge in ihrem Alter, der mit einem Steckenpferd vor ihr stand.
Maria war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Noch nie hatte sie so einen schönen Jüngling gesehen! Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Unsicher machte sie einen leichten Knicks, was den Jüngling zum Lachen brachte.
„Wir sind hier nicht am Hofe. Sowas machen nur Prinzessinnen. Komm, schöne Magd, steig auf und reite mit mir. Du scheinst neu zu sein. Ich werde dir alles zeigen.“
Maria nickte nur, und als sie sich an ihm festhielt, kam ihre Sicherheit langsam wieder zurück. Schnell hüpften sie gemeinsam zu den anderen. Nach wenigen Minuten wurde sie allen vorgestellt als die „Neue“. Niemand erkannte sie! Keiner fragte, woher sie kam, oder zu wem sie gehörte!
Innerlich atmete die Prinzessin erleichtert auf. Nur einmal kam sie ins Straucheln, als sie nach ihrem Namen gefragt wurde.
„Ursula“, antwortete sie nach einer kleinen Pause.
„Willkommen, Ursula“, riefen alle Kinder im Chor. Maria wusste gar nicht, wie ihr zumute war. Ein unbekanntes Gefühl für die behütete, immer lernende Prinzessin. Aber es war ein gutes Gefühl, ein sehr gutes! Die anderen Kinder waren überrascht, wie schnell sie sich die Spiele merken konnte und wie schnell sie zu den Gewinnern gehörte. Im Reifenspringen war sie schon am ersten Tag unschlagbar. Die Zeit verging wie im Flug. Als die Dämmerung eintrat, verabschiedete sich ein Kind nach dem anderen, bis nur noch Maria und der hübsche Jüngling übrig waren.
Wieder überkam die Prinzessin ein komisches Gefühl, das sie einfach nicht beschreiben konnte.
„So, hübsche Magd. Auch ich muss nun zurück. Werde ich dich morgen wiedersehen?“
Über Marias Lippen kam ein leises „sehr gerne“, und mit einer Verbeugung verabschiedete er sich. Plötzlich fiel Maria ein, dass sie noch gar nicht seinen Namen kannte, fasste all ihren Mut zusammen und rief ihm hinterher: „Wer würde mich gerne wiedersehen?“
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