Mit tränenden Augen lauschte Maria der Auslegung. Nun war sie diejenige, die beeindruckt war.
Nach fünf Zwiebeln wurde Maria erlöst. Sie durfte sich waschen und wurde von ihrer Dienerin bereitgemacht für den nun folgenden Unterricht.
„Disziplin, junge Prinzessin, ist das, was dir zu fehlen scheint, denn Wissen besitzt du. Doch nun wollen wir einmal sehen, wie breit dein Wissen ist“, sagte Anna, die wie eine Riesin vor ihr stand.
Maria schluckte zuerst den Kloß in ihrem Hals hinunter und sammelte sich.
‚Wollen mal sehen, wer von uns beiden die Klügere ist‘.
Der Unterricht begann: „Wer, oder was, ist Nostradamus?“, fragte Anna.
„Ein französischer Heiler und Seher“, antwortete Maria mit stolz geschwellter Brust.
Wieder zog Anna beeindruckt ihre Augenbrauen nach oben, überlegte angestrengt und fragte mit einem Grinsen im Gesicht: „Francis Drake?“
Sofort antwortete Maria: „Francis Drake war ein englischer Seefahrer und Freibeuter und ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts. Er wurde 1540 in Tavistock, Devon, in England, geboren und starb im Alter von 56 Jahren am 28. Januar 1596 in Portobelo in Panama.“
Jetzt musste sich die Hofdame hinsetzen, denn damit hatte sie nicht gerechnet.
‚Woher weiß die Kleine das alles schon mit acht Jahren?‘
Maria wurde mutig und fragte: „Gnädige Hofdame, wissen Sie, wer William Shakespeare war?“
Anna schnappte nach Luft und dachte: ‘So ein Frechdachs, dir werde ich es zeigen!’
„Er war ein englischer Schriftsteller.“
Maria nickte, und so ging es jetzt immer hin und her mit den beiden. Jede hatte immer die richtige Antwort parat, egal, um welche Persönlichkeit es sich handelte.
Galileo Galilei, Johannes Kepler, Peter Paul Rubens, Rembrandt an Rijn, Moliere und so weiter.
Nach mehreren Stunden zog sich die Hofdame zurück, um sich zu erholen. Maria hingegen lief unbeschwert in den Innenhof der Burg und drehte einige Runden, um fit für die weiteren Lehrstunden zu sein.
Im Geheimen freute sie sich darauf und glaubte: ‘Der Zicke werde ich zeigen, was ich draufhabe.’
Doch sie sollte sich täuschen, gewaltig täuschen!
Am nächsten Tag wurde Maria schnell klar, dass mit der Hofdame nicht zu spaßen war!
„So, mein neunmal kluges Prinzesschen! Dann wollen wir mal sehen, wie es mit dem Tanzen und deinen künstlerischen Fähigkeiten aussieht“, sagte Anna siegessicher und ergänzte: „Harfe spielen kannst du ja schon. Aber was kannst du noch?“
Maria erschrak. Damit hatte sie nicht gerechnet! Denn künstlerisches Talent gehörte nicht zu ihren besten Fähigkeiten.
Auch ihre Fingerfertigkeit war nicht unbedingt geeignet für nähen, malen oder töpfern. Sie bemühte sich sehr. Doch für Anna war alles nicht gut genug. Siegessicher lächelnd stand die Hofdame vor ihr, wie eine Göttin strahlend, und gab ihr immer wieder neue Aufgaben. Doch nichts, aber auch gar nichts, war für sie in Ordnung. Ein Tadel folgte dem nächsten.
Maria war am Boden zerstört!
Ihre geliebte Harfe wurde ihr abgenommen, und alle sportlichen Aktivitäten untersagt.
Nach einem halben Jahr wurde Maria immer trauriger. Würde ihr zukünftiges Leben nur aus den Dingen bestehen, die sie nicht gerne tat? Es war zum Verzweifeln.
Sie wurde gezwungen, dämliche Blumen zu sticken, kleine und große Vasen zu töpfern, die niemand brauchte, Bilder von Bäumen oder Schlössern zu malen, die niemand aufhängen würde.
Aber am schlimmsten war das Tanzen! Dieses langweilige, steife Herumgehopse war gar nichts für sie. Einmal täuschte sie eine Verletzung vor, doch die Hofdame kannte keine Gnade. Ein kühler Verband wurde angelegt und sofort ging es mit dem Unterricht weiter.
Der einzige Lichtblick waren die Abendstunden, die sie mit ihrer treuen Dienerin verbrachte.
Helena wusste so vieles über das Leben und in welchem Buch was zu finden sei.
Maria dachte: ‚Bestimmt ist sie schlauer als diese blöde Hofdame Anna‘.
Aber es half nichts! Ihre Eltern bestanden darauf und verlangten blinden Gehorsam der Hofdame gegenüber. Ihr Vater versuchte sie immer wieder etwas aufzumuntern, denn er war nicht unbedingt mit den Erziehungsmethoden der Hofdame einverstanden. Seine Tochter tat ihm leid! Doch ihre Mutter Elisabeth pochte darauf, die strenge Erziehung fortzuführen.
Maria wurde immer unglücklicher und fand an nichts mehr Gefallen. Die Hofdame freute sich über ihren errungenen Sieg und bürdete der Prinzessin immer mehr ungeliebte Aufgaben auf.
Sie dachte: ‚Dir werde ich es zeigen, kleine freche Göre.‘
So verging Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat.
Eines Morgens wurde die Hofdame während des Unterrichts von Elisabeth gerufen, und Maria war alleine. Aus Langeweile griff sie zu einem Buch über Heilpflanzen. Sie ließ die Seiten lustlos an ihren Augen vorbeifliegen.
Irgendwann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Schneerose. Interessiert las sie den Text. Dann noch einmal und noch einmal. Sie schmunzelte und ließ die Seiten ein weiteres Mal fliegen, bis sie an der Hagebutte hängenblieb.
Wieder las sie den Text zwei Mal und schmunzelte erneut. Der Zufall hatte ihr ein Zeichen geschickt!
Ihre Zuversicht wuchs, die Hofdame bald schon loszuwerden.
An diesem Abend fragte Maria vor dem Zubettgehen ihre Dienerin, ob sie bitte so freundlich wäre und ihr Schneerosen und Hagebutten besorgen könnte.
Helena schaute zunächst nachdenklich, dann schmunzelte sie und erwiderte: „Prinzessin, möchtet Ihr die Pflanzen getrocknet oder frisch?“
Maria lachte, zum ersten Mal seit langem, und antwortete: „Getrocknet, natürlich. Und, wenn möglich, als feines Pulver, bitte.“
Zuerst plagten Helena Gewissensbisse, denn ihr war bewusst, was Maria vorhatte.
Als das traurige Gesicht der Prinzessin vor ihren Augen erschien, schob sie alle Zweifel zur Seite und machte sich an die Arbeit. Sie lief in die Küche, holte sich eine Sichel und begab sich in den Kräutergarten. Mit zwei kleinen Säckchen kam sie zurück und lief zum Kamin im Rittersaal. Links auf das Sims legte sie ein Bündel Schneerosen.
Dann pulte sie die Nüsschen aus den Hagebutten und legte sie zum Trocknen auf die rechte Seite. Der Kamin war noch gut warm, und schon nach zwei Stunden waren beide Häufchen trocken. Helena nahm einen Mörser und zerstieß die Schneerose mit dem Stößel zu einem feinen Pulver.
Beim Umfüllen in eine kleine Papiertüte nieste sie mehrmals. Lachend sagte sie: „Deshalb wird die Schneerose auch schwarze Nieswurz genannt.“
Beim Umfüllen der Nüsschen aus der Hagebutte passte sie besonders auf, denn die feinen Härchen an den Nüsschen wurden gerne als Juckpulver verwendet.
,Die Prinzessin ist ganz schön raffiniert’, fand Helena und brachte beide Papiertütchen in ihre Kammer, um sie am nächsten Morgen zur Prinzessin zu bringen.
Maria bedankte sich und verstaute die Tütchen in ihrem vergoldeten Nachttisch, damit die Hofdame sie nicht zu Gesicht bekam.
Dabei flüsterte sie: „Das wird der Hofdame eine Lehre sein‘, und grinste dabei über beide Ohren.
Helena überkamen plötzlich Zweifel, ob sie richtig gehandelt hatte. Mit einem unguten Gefühl verließ sie das Zimmer der Prinzessin.
Nach dem Frühstück lief Maria in das extra eingerichtete Lernzimmer.
Sie war der Meinung, dass „Folterkammer“ der angemessenere Name dafür wäre. Aber das behielt sie für sich.
Maria war extra früher in der „Folterkammer“ und streute etwas von dem getrockneten Schneerosenpulver auf und in das Lehrbuch der Hofdame. Das Hagebuttenpulver streute sie auf den mit Samt überzogenen Stuhl.
Durch die Sonneneinstrahlung zeichnete sich das Pulver auf dem roten Samt deutlich sichtbar ab. Die Prinzessin erschrak, doch blitzschnell zog sie einen Vorhang zu. Nun war das Pulver nicht mehr zu sehen.
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