»Schon gut, Melzick, ich weiß was Sie meinen«, sagte Zweifel. Das war einer der Gründe, warum sie gern mit ihm zusammenarbeitete. Sie musste ganz selten etwas erklären. Fast immer schien er die gleichen Gedanken zu haben, oder ihre sogar lesen zu können. Sie waren fast am Ende des Flurs, wo nur noch wenig Licht hinkam. Die letzte Tür auf der rechten Seite stand ebenfalls offen.
»Lassen sie mich mal vor …«, wollte Zweifel gerade sagen, als die verhängte Glastür mit einem plötzlichen Ruck aufgestoßen wurde. Beide fuhren herum und hielten unwillkürlich die Luft an. Vor ihnen stand ein untersetzter Bulle von Mann, kaum größer als Melzick, blonde Stoppelhaare, ein rotes, verschwitztes Gesicht hinter einem ungepflegten Vollbart, kleine, blaue Augen hinter einer Nickelbrille, blauer Kittel, kurze Hosen, barfuß. Einen schier endlosen Augenblick starrten die drei sich an und es ließ sich nicht entscheiden, wer verblüffter war. Der Mann fand als erster seine Sprache wieder.
»Was wollts ihr denn hier, ha?«, schnauzte er sie an. Melzick schaute Zweifel an. Der kannte seinen Text.
»Ich bin Kommissar Zweifel, das ist«, er deutete leicht auf Melzick, »meine Assistentin Melinda Zick, und Sie sind«, dabei machte er eine Pause und lächelte sein Gegenüber freundlich an, »sicher Herr Valentin Lindberg.« Der Mann stutzte verblüfft und schaute von einem zum andern. Später sollte Melzick sich daran erinnern, dass sie den Eindruck hatte, als ob er fieberhaft nachdächte. Er wischte sich mit der rechten Hand übers Gesicht, wie um Zeit zu gewinnen. Dann zog er ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich ausgiebig. Schließlich schob er sich wortlos an ihnen vorbei in die Küche. Erleichtert bemerkte Melzick, dass sie ihm wohl nicht die Hand zu schütteln brauchten. Er stand vor dem Kühlschrank und holte sich eine Bierdose heraus. Dann schien ihm etwas einzufallen. Er drehte sich um und kniff die kleinen Augen zusammen.
»Wolltsr aa oins?« Zweifel wurde schlagartig bewusst, dass er die Briefe noch in der Hand hielt.
»Warum nicht, sehr gerne. Sie auch Melzick?« Diese schüttelte den Kopf. Zweifel nahm die Dose, die Lindberg ihm entgegenstreckte und hielt ihm mit der anderen Hand die Briefe unter die Nase.
»Etwas unangenehme Post, wie?« Lindberg zuckte ungerührt mit den Schultern.
»Schmarrn. Das Übliche eben. Drecksbande.« Melzick war nicht ganz klar, wen er damit meinte. Es zischte zweimal kurz, als die Männer ihre Bierdosen öffneten. Melzick ging zum Fenster und spähte hinaus. Die Scheune stand jetzt weiter offen. Im Innern schien sich etwas zu bewegen.
»Also, was wollts von mia?«, sagte Lindberg und rülpste geräuschvoll. Melzick drehte sich um.
»Haben Sie gehört, was heute Morgen hier in der Gegend passiert ist?«, fragte Zweifel, nachdem er seine Dose halb geleert hatte.
»Naa. I kriag nix mit. Meischtens.«
»Man hat jemanden tot im Kurpark gefunden. Abgestürzt. Aus einem Ballon. Zumindest deutet alles darauf hin.«
»Sakra!« Lindberg trank aus und warf seine leere Bierdose in den Mülleimer. »Und wer, bittschön, is’ die Leich’?«
»Professor Abraham Mindelburg«, sagte Melzick.
»Kenn i idd.« Melzick räusperte sich und warf Zweifel einen schnellen Blick zu.
»Ich schau mich draußen mal um«, meinte sie beiläufig. Zweifel nickte. Lindberg kniff seine kleinen Augen wieder zusammen und wollte etwas erwidern. Dann überlegte er es sich anders. Melzick verschwand aus der Küche und nahm den Hinterausgang, durch den Lindberg hereingekommen war.
»Wie gehen die Geschäfte?«, fragte Zweifel. Lindberg machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Mei, wie sollns schon goa. Miserablig halt. Des sehns doch, wanns Auga im Kopf hend.«
Melzick war draußen. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Dann lenkte sie ihre Schritte zur Scheune hin. Wieder kam ihr ein Hitchcock-Film in den Sinn. Die Szene, in welcher der Detektiv mit dem seltsamen Namen, Arbogast oder so ähnlich, sich langsam dem unheimlichen Haus hinter dem Motel nähert. In der brütenden Mittagshitze krabbelte ganz langsam ein Tausendfüßler mit eiskalten Füßen ihren Nacken hinab. Sie schüttelte sich unwillig. In diesem Moment begann wieder das unregelmäßige Hämmern, das sie vorhin gehört hatten. Sie blieb stehen und schaute über die Schulter zum Wohnhaus zurück.
»Keine Touristen, die sich das Allgäu mal von oben ansehen wollen?«, fragte Zweifel. Lindberg schnaubte verächtlich durch die Nase und holte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank.
»Des kennans vergessn«, brummte er, nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »De fliagn glei mitm Flugzeug. Hend mir ja alles da. Flughafen und so. Rundflug bis zu die Alpen und zruck. Oder se hüpfad mitm Fallschirm raus.« Er schüttelte den Kopf. »Maximal vielleicht mitm Segelfliagr. Aber des Ballonfahrn – naa. Da gibts koa Adrenalin zum vaschenkn, vaschdengas?« Zweifel wunderte sich.
»Hätte ich nicht vermutet. Das Ballonfahren ist doch was …«, er suchte nach dem passenden Begriff, »was Echtes, Ursprüngliches. Das Langsame kommt doch wieder ganz groß in Mode.«
»Davon hend i hier abr no nix gmerkt.«
»Wann waren sie denn zuletzt in der Luft?«, sagte Zweifel und nahm einen Schluck. Lindberg verschränkte die Arme, und behielt dabei die Bierdose in der Hand.
»Warum wollns jetzad des wissen?«
»Reine Routinefrage. So heißt es doch immer beim Tatort.« Zweifel lächelte beschwichtigend, doch ohne Wirkung. Lindberg ging zum Fenster und suchte den Hof ab. Melzick war nicht zu sehen.
»Wo ischn ihre Assistentin hin verschwundn?«
Der Geruch von Heu stieg ihr in die Nase, als sie vorsichtig die Scheune betrat, ohne das Tor weiter öffnen zu müssen. Sie wartete kurz, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Das Hämmern kam jetzt aus unmittelbarer Nähe. Es wurde begleitet von stoßweisem Ausatmen und einem angestrengten Ächzen. Jemand ganz in der Nähe hatte sich wohl eine harte Arbeit vorgenommen. Das erste was sie erkennen konnte, war ein Stapel dicker Holzbretter, der ihr bis über den Kopf ragte. Davor lag ein altes Kinderdreirad auf der Seite im Staub. Eine riesige Drehbank stand an der Schmalseite der Scheune zu ihrer Linken. Sie schaute nach oben. Etwa zehn Meter über ihr ruhten gewaltige Balken, die sich quer durch den ganzen Raum zogen. Darüber erhob sich das steile, spitzgiebelige Dach. In der staubigen Düsternis dort oben zitterte ein Lichtstrahl und malte einen nervösen hellen Punkt irgendwo an die hohe Bretterwand. Rechts vom Eingangstor war ein Bretterverschlag zu erkennen, ein kleiner vom Rest der riesigen Scheune abgeteilter Raum. Von dort kam das Hämmern. Eine schmale Holzleiter lehnte an seiner Seitenwand. Melzick ging hin und erklomm kurz entschlossen ein paar Sprossen. Oben auf dem Verschlag lagen ein paar vergessene Heuballen. Dazwischen standen grob zugehauene Holzskulpturen. Sie kletterte die Leiter wieder hinunter und musste plötzlich heftig niesen. Jemand schrie vor Schreck.
»Keine Ahnung, Sie haben doch nichts dagegen, dass sie sich umschaut?«
»Des Umananderschnüffeln mog i idd.«
»Ja. Gut. Also wann war jetzt Ihre letzte Ballonfahrt?«, beharrte Zweifel. Lindberg leerte die zweite Dose und knüllte sie zusammen. Dann fixierte er den Kommissar über seine Nickelbrille hinweg, die ihm auf die Nase gerutscht war. Zweifel registrierte sorgfältig die Schweißtröpfchen, die sich auf der Stirn seines Gesprächspartners gebildet hatten.
»Mei, werd’ scho zwei oder drei Wochn her sei«, war die brummige Antwort.
»Und wie viele Passagiere hatten Sie?«
»Zwoa. A junges Ehepaar ausm Norden.«
»Den Namen wissen Sie noch?«
»Naa den woiß i idd«, war die patzige Antwort. Wieder sah er durchs Fenster nach draußen, ohne diese »Polizeiwanze« zu entdecken. Dann blitzte etwas in ihm auf und er drehte sich zum Kommissar um.
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