»Heh, sind Sie verrückt geworden, verdammt?!«, schrie sie und stürzte zu den Rosen.
»Ihr Baby hat eine ›CLM‹ für sie«, sagte Zweifel. Sie kniete bereits auf dem Boden und wühlte, vorsichtig die Dornen meidend zwischen den Blättern und im Rindenmulch.
»Was ist los?«, schrie sie ihn in unverminderter Lautstärke über die Schulter hinweg an. »Was soll das sein?« Ihr Baby hatte wohl die kräftige Stimme von ihr geerbt und stellte dies als Untermalung ihres Geschreis immer deutlicher unter Beweis. Einige Fußgänger waren mittlerweile stehen geblieben.
»Kennen Sie das nicht?«, fragte Zweifel die junge Frau seelenruhig. »CLM, nicht SMS. Gibt’s schon sehr lange. Crying Loud Message.« Damit drehte er sich um. Einige der Umstehenden lachten. Eine ältere Frau meinte: »Nun nehmen Sie doch endlich mal Ihr Kind raus!« Zweifel ging weiter ohne sich umzudrehen. Nach einiger Zeit verstummte das Babygeschrei. Die »CLM« war wohl angekommen. Auf dem Weg zu seinem Mittagessen konnte Zweifel noch ein weiteres Opfer attackieren – einen schmalbrüstigen jungen Mann in einem viel zu engen, blau glänzenden Polyesteranzug, der ihm frontal in den Weg lief. Zwei kleine weiße Kopfhörer in den Ohren, virtuelle Tomaten auf den Augen. Auch hier ein geübter Schlag von unten gegen die simsenden Hände, nicht zu stark, nicht zu schwach. Auch hier ein in die Höhe steigendes, in der Sonne funkelndes Smartphone auf einer elliptischen Bahn. Reaktionsschnell fing es jedoch der Displayjunkie mit einer Hand auf, stöpselte lässig die Kopfhörer wieder ein und setzte seine lebensnotwendige Tätigkeit unbeeindruckt fort. Zweifel sah es mit Staunen und Respekt, schob sich seinen kirschkerngroßen Ärger in die Backentasche und ließ es gut sein für heute. Wenig später stand er an einem kleinen runden Bistrotisch, vor sich einen Teller, gefüllt mit in Knoblauchöl getränkten, glänzend schwarzen, köstlichen Oliven, auf denen zwei bis drei Dolmades-Röllchen thronten. Nach zwei Gabeln klingelte sein Handy. Das konnte nur Melzick sein. Er fingerte es aus der Innentasche seines Sakkos.
»Melzick!«
»Ja Chef, wo sind Sie gerade?«
»Vor einem Teller Dolmades mit Oliven.«
»Oh – ja, kann ich mir denken. Frau Lucys Geheimtipp. Den Knoblauch kann ich bis hier riechen.«
»Ach – das ist ja interessant.« Zweifel nahm eine neue Gabel voll in Angriff. »Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken?«
»Allerdings. Ich komm’ gleich bei Ihnen vorbei. Schön langsam kauen, Chef.« Zweifel legte auf. Er kannte die ernährungstechnischen Ratschläge seiner veganen Assistentin zur Genüge. Und manchmal befolgte er sie sogar.
Als es etwa eine halbe Stunde zuvor an der Tür der Villa Fontenay, dem Domizil von Serafina Moor, klingelte, schaute Anna Eichhorn mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hinüber. Beide saßen auf der weitläufigen, von Bambussträuchern eingerahmten Terrasse und waren gerade dabei, hochkonzentriert mehrere alte Fotoalben durchzublättern.
»Wer kann das bloß …?«, flüsterte Anna Eichhorn, doch Serafina Moor brachte sie mit einem schnellen Wink zum Schweigen. Sie warteten einen Moment. Dann klingelte es erneut. Melzick war wieder einmal kurz davor, die Geduld zu verlieren. Sie drückte energisch ein drittes Mal und außerdem deutlich länger auf den Messingknopf unter dem reich verzierten, quadratischen Messingschild, auf dem in schwungvoller Schrift der Name der alten Villa prangte. Serafina Moor warf einen strengen Blick auf Anna Eichhorn.
»Ich kann mir schon denken, wer das ist. Diese Impertinenz!« Sie schnaubte mit wohldosierter Verachtung durch die Nase. Dann erhob sie sich. »Du weißt was wir besprochen haben. Die Zeit …« Sie hielt es für überflüssig, den Satz zu beenden und hob stattdessen vielsagend ihre rechte Augenbraue. Anna Eichhorn erwiderte den Blick mit einem nervösen Zwinkern. Dann ging Serafina Moor, um Melzick selbst die Tür zu öffnen. Für irgendwelches Personal hatte sie keinen Nerv, noch nie gehabt. Melzick bemerkte einen Schatten hinter dem schmalen Streifen aus farbigem Bleiglas, der rechts von der pompösen Mahagonitür bis zum dunklen Granitboden reichte. »Halleluja«, dachte sie und atmete tief durch. Die Tür ging auf und Serafina Moor stand vor ihr, einen schwarzen Haarreif in der graublonden Mähne, die Herablassung in Person.
»Oh!«, mehr sagte die Moor nicht zur Begrüßung.
»Guten Tag. Ist Frau Eichhorn hier?« Serafina Moor nahm sich die Zeit, verschränkte ihre Arme und warf einen langen Blick auf die zu einem kleinen Turm verschlungenen hennaroten Dreadlocks auf Melzicks Kopf.
»Sagen Sie, muss man das eigentlich regelmäßig gießen, oder wie behält das die Form?« Melzick vereiste augenblicklich.
»Das ist reine Körperbeherrschung. Mehr braucht es nicht«, antwortete sie betont langsam, als würde sie einer senilen Seniorin den Weg erklären. Die Fronten waren also geklärt. Serafina Moor machte einen Schritt zur Seite und Melzick trat ein. Ein irritierend starker Lavendelduft beherrschte die dunkle Eingangshalle.
»Geradeaus durch, wenn ich bitten darf!« Melzick folgte ihr durch einen schmalen Flur, der zu einem großzügig geschnittenen, hellen Raum führte. Eine bestimmt vier Meter hohe Decke mit zarten, verblassten Fresken, lediglich zwei ausladende Ohrensessel, cremeweiß bezogen, auf dem edel in der Farbe alten Cognacs schimmernden Parkett, ein einziger flacher Couchtisch im Kolonialstil von sehr dunklem Braun zwischen ihnen, zart gelbe, duftige Volants an den weit geöffneten Terrassentüren, die Wände in honigfarbenem Holz getäfelt, keine Bücher, keine Bilder, keinerlei Nippes. Melzick konnte nur mit Mühe bewundernde Blicke vermeiden. »Der Salon also«, dachte sie grimmig. Serafina Moor war, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, vorausgegangen und hatte sich an einen riesigen ovalen Rattantisch gesetzt, auf dessen Glasplatte ein halbes Dutzend dicker Fotoalben verteilt waren. Dazwischen standen zwei Kaffeetassen, eine silberne Kanne, die antik aussah und ein geflochtener Korb, in dem ein angebissenes Croissant lag. Als Anna Eichhorn Melzick erblickte, griff sie gleich danach. Melzick übersah dies, sie wollte keine Zeit verlieren.
»Schön, dass ich Sie hier treffe, Frau Eichhorn, ich habe noch …«
»Leider können wir Ihnen nichts anbieten«, unterbrach sie die alte Dame und biss mit Wonne in das Croissant.
»Das macht nichts. Ich habe noch ein paar Fragen an …«
»Oder haben wir noch etwas Kaffee drinnen?«, fragte Anna Eichhorn ihre Freundin. Serafina Moor hob mit einem sehr schmalen Lächeln die Schultern und schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht zum Frühstücken hergekommen!«, entfuhr es Melzick in einem forschen Ton.
»Ach«, sagte Anna Eichhorn, »und worum geht es bitte?« Melzick atmete zum zweiten Mal tief durch.
»Sie haben heute Morgen von einem merkwürdigen Geräusch berichtet.«
»Hab ich das?«
»Ja und ich möchte wissen, wann genau Sie es gehört haben.« Anna Eichhorn starrte sie gedankenverloren an. Serafina Moor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte erneut die Arme.
»Wann ich es gehört habe«, wiederholte Anna Eichhorn zögerlich. »Hab’ ich das nicht heute Morgen schon gesagt?« Melzick seufzte im Stillen.
»Ja das haben Sie. Aber es gibt da einen gewissen Widerspruch in Ihrer Aussage.«
»So, gibt es den?« Anna Eichhorn reckte ihr kurzes Kinn in die Höhe. »Normalerweise geht die Sonne auf und ich bereite mich auf meinen Morgenspaziergang vor. Das ist so meine Gewohnheit um diese Jahreszeit. Bei mir geht alles etwas langsamer daher brauche ich dafür etwa eine Dreiviertelstunde.«
»Demnach wären Sie etwa um sechs Uhr losgelaufen.«
»Wenn Sie das sagen. Kann wohl sein.« Sie machte eine kurze Pause. »Und da hab’ ich das Gebläse, oder was es auch war, gehört. Ich war gerade um die Ecke gebogen. Ich wohne ja ganz in der Nähe vom Kurpark.«
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