»Heute Morgen sagten Sie, Sie hätten es gehört kurz bevor Sie die beiden Männer fanden, was ungefähr um 6 Uhr 50 gewesen sein dürfte.«
»Ach was, das kann nicht sein. Nein, nein, das war viel früher.«
»Sind Sie sicher?«
»Aber ja.«
»So sicher wie heute Morgen?«
»Natürlich, was denken Sie? Das heißt …, also eigentlich …« Sie brach ab. Melzick heftete ihren Blick auf sie. Die alte Dame machte einen ganz anderen Eindruck als noch am Morgen im Kurpark. Sie griff etwas verlegen in ihren gelben Schal. »Ich meine, was kann ich denn …?«
»Schon gut, Frau Eichhorn, ich werde mir das genauso notieren.« Melzick holte ihr kleines blaues Notizbuch aus ihrer hinteren Hosentasche. Während sie mit einem Bleistiftstummel etwas hinein kritzelte, fiel ihr noch etwas ein.
»Was haben sie eigentlich gemacht, als sie die beiden Männer fanden?« Anna Eichhorn räusperte sich leise.
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja – sind Sie erschrocken? Haben Sie geschrien? Konnten Sie sich nicht vom Fleck rühren? Oder sind Sie vielleicht näher rangegangen? Vielleicht ganz nahe? Haben Sie die beiden berührt? Lag außer den beiden sonst noch etwas auf dem Boden? Etwas, das Sie aufgehoben haben?« Melzick hielt inne. Sie hatte sich wieder einmal hinreißen lassen. So fragte man nicht. Sie wusste es, sie hatte es gelernt und oft genug geübt. Aber diese dämlichen Rollenspiele auf der Polizeiakademie hatten mit dem wirklichen Leben absolut nichts zu tun. Sie schaute von ihrem Notizbuch auf. Anna Eichhorn war tatsächlich blass geworden. Ein Croissantkrümel hing in ihrem Mundwinkel. Sie schien unfähig, zu antworten. Das übernahm Serafina Moor, die mit einem Ruck aufstand.
»Das reicht Frau …«
»Zick.«
»Frau Zick! Meine Freundin Anna hat es nicht nötig, etwas vom Boden aufzuheben, das ihr nicht gehört! Wissen Sie noch, wie Sie hereingekommen sind?« Melzick schaute sie wortlos an. »Dann finden Sie auch wieder hinaus!« Anna Eichhorn saß zusammengesunken mit leerem Blick in ihrem Sessel. Serafina Moor hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und fixierte die junge Frau. Melzick steckte ihr Notizbuch wieder ein. Sie schluckte ein paar Mal, um etwas Zeit zu gewinnen. Dann kehrte sie den Rest Höflichkeit, den sie finden konnte, zusammen.
»Vielen Dank für Ihre Kooperationsbereitschaft. Wir werden sicher noch einmal darauf zurückkommen.« Damit drehte sie sich um, durchquerte den Salon und verließ das Haus wie sie gekommen war. Die Tür ließ sie etwas lauter als nötig ins Schloss fallen. Tief durchatmen – zum dritten Mal. Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte sie sich suchend nach beiden Seiten. Rechts und links des mächtigen Baus aus roten Ziegelsteinen erstreckten sich dichte Hecken, jedoch kein Zaun aus Holz oder Metall. Melzick spähte die Straße in beide Richtungen entlang. Niemand war zu sehen. Sie probierte es mit der rechten Seite und untersuchte die grüne, nach Kräutern duftende Barriere. »Bingo«, murmelte sie nach ein paar Metern. Sie hatte eine schmale Lücke entdeckt und zwängte sich an vertrockneten Ästen und Zweigen vorbei. Ein tiefer Kratzer unter ihrem linken Auge sollte sie noch längere Zeit an diese Aktion erinnern. Auf der anderen Seite der Hecke brauchte sie nur ein, zwei Sekunden, um sich zu orientieren. Der Garten war verwildert und bot ihr mit einer Vielzahl von Sträuchern, Zierbäumen und hohem Schilfgras, das mehrere Teiche einfasste, ausreichenden Sichtschutz. Sie näherte sich leicht gebückt der Terrasse, die mit Bambussträuchern umgeben war. In der Nachbarschaft war ein Rasenmäher am Werk, so dass sie sich vollkommen unbemerkt heranpirschen konnte. Bald war sie nahe genug, um die Unterhaltung der beiden Damen verstehen zu können.
» … nicht, was du von mir willst, Serafina«, sagte Anna Eichhorn gerade mit Trotz in der Stimme. »Die hat mir doch alles abgenommen, oder nicht?«
»Ha!«, schnaubte Serafina Moor, »allerdings! Du warst sehr überzeugend unsicher, das muss ich zugeben. Trotzdem. Wir müssen unbedingt nochmal über …«. Der Rest ging im näherkommenden Lärm des Rasenmähers unter. Melzick hatte für dieses Mal genug gehört und machte sich aus dem Staub.
Zweifel nahm gerade seine letzte Gabel, als er von Weitem den leuchtenden Haarschopf seiner Assistentin sah. Er winkte Stavros, den Wirt, zu sich.
»Bringen Sie bitte nochmal einen Teller voll von diesem hier«, sagte er zu ihm, »und ein neues Besteck.« Stavros nickte erfreut und verschwand.
»Hallo Chef«, sagte Melzick etwas außer Atem. »Schon fertig? Sind Sie satt geworden? Hat’s geschmeckt?« Zweifel setzte sein Glas ab.
»Sie können sich gleich selbst davon überzeugen. Ist übrigens vegan.« Er musterte aufmerksam ihr Gesicht. »Waren die Damen so kratzbürstig?«
»Wieso?« Er deutete mit dem Finger auf ihren Kratzer.
»Ganz schöne Schramme, die Sie dort haben.« Melzick grinste.
»Tja, das war eine versteckte Ermittlung.«
»Ist sowas erlaubt, Melzick?« Sie zuckte gleichmütig mit den Schultern und drehte sich nach dem Wirt um. Stavros brachte gerade einen nach Knoblauch duftenden, reichlich gefüllten Teller und strahlte Melzick an. Diese nahm ihm das Besteck aus der Hand und berichtete Zweifel mit zumeist vollem Mund von ihrem Besuch in der Villa Fontenay samt anschließender Lauschaktion.
»Was halten Sie davon?«, fragte Zweifel schließlich. Sie zuckte wieder mit den Schultern.
»Die halten sich für besonders clever. Diese Frau Eichhorn weiß genau, was sie sagt. Und diese«, sie machte eine bedeutsame Pause, »Moor! Also die kommt eindeutig vom Planeten Ego.«
»Vom Planeten Ego, aha.« Melzick kaute auf beiden Backen.
»Ja, die muss da ein ganz hohes Tier sein.«
»Und was denken Sie, ist der Grund, warum die beiden uns was vorspielen?«
»Na, in erster Linie, um als unzuverlässige Zeugen zu gelten. Die spekulieren darauf, dass sie dann eben nicht ernst genommen werden und eher an den Rand unseres Radarschirmes wandern. Das hätte dann schon seine Vorteile.«
»Na, dann werden wir ihr Verhalten mal sehr ernst nehmen. Konnten Sie eigentlich erkennen, was für Fotos da auf dem Tisch herumlagen?«
»Nein, die Alben waren alle geschlossen. Sahen ganz abgegriffen aus. Müssen sehr alte Fotos gewesen sein.« Sie stockte. Dasselbe hatte sie heute doch schon mal gesagt.
»Gut, wenn Sie fertig sind, werden wir uns mal um die Ballonfahrer kümmern.«
»Fgib mur eimem.«
»Wie bitte? Und würden Sie bitte langsam kauen.« Melzick hob ergeben die Hand und wurde deutlicher.
»Valentin Lindberg. Das ist der Einzige weit und breit. Lebt außerhalb der Stadt.«
»Gut, sobald ihr Teller leer ist fahren wir zu ihm. Und vorher versuchen Sie bitte, Dr. Wollmaus anzurufen. Ich hab’ seine Nummer nicht.« Melzick zog ihr Smartphone heraus und legte es auf den Tisch.
»Ist in diesem Fall wohl ganz nützlich.«
»Das hab’ ich nie bestritten. Sie haben da ein falsches Bild von mir.«
»Ach ja – und was ist mit den Beschwerden? Ich bin sicher, Sie haben heute schon wieder zugeschlagen. Dieser zufriedene Ausdruck in ihren Augen …«
»Das geht Sie gar nichts an, Melzick. Außerdem waren das absolut notwendige Maßnahmen.« Melzick verdrehte die Augen.
»Sicher haben die Betroffenen da auch volles Verständnis.« Zweifel trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Haben Sie die Nummer?«
»Moment.« Sie warf einen kurzen Blick auf das Display. Ihr Bruder hatte ein paar Mal versucht, sie anzurufen. Kurz hintereinander. Mit einem Stirnrunzeln wischte sie ihn beiseite. Sie würde später bei ihm anrufen. Sie suchte die Nummer von Dr. Wollmaus. Nach wenigen Sekunden war sie sichtbar. Zweifel nahm das Smartphone, wählte und hatte wieder keinen Erfolg. Er gab es Melzick zurück, die ihren Teller überraschend schnell leer gefuttert hatte.
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