Ihre beiden Söhne liebte ich sehr. Der ältere, zwölf Jahre, fragte mich immer wieder nach meinen Kenntnissen in der Informatik aus, während der vier Jahre jüngere meine Vorliebe für Science-Fiction-Literatur teilte. Wie sehr meine Schwester mir vertraute und mich liebte, bewies sie immer wieder, da sie mir die Kinder auch ohne Grund für ein Wochenende überließ. Nach solchen Wochenenden regte sie sich hin und wieder auf, weil ich die kleinen Racker zu sehr verwöhnte. Meine Mutter, die diese Hasstiraden nicht mehr ertragen konnte, wurde plötzlich sehr laut und energisch. Ganz die Lehrerin, wies sie meinen Vater zurecht, dass er doch bitteschön seine Meinung für sich behalten dürfe, denn heute wäre ein freudiger Tag. Mich beeindruckte diese resolute Zurechtweisung zu meinen Gunsten. Nach diesem Statement sprach mein Vater kein einziges Wort mehr mit mir, nur die Verabschiedung nötigte ihm ein „Hab viel Spaß“ ab.
Als ich endlich das Haus verließ, nahm ich einfach ein Taxi, denn ich hatte keine Lust, mich durch die Stadt per Bus und Bahn zu quälen. Dreimal Umsteigen brauchte ich nicht auch noch zu ertragen. In meiner schwarzen Röhrenjeans, der weißen Bluse und dem hellgrünen Parka fühlte ich mich für eine Reise gut gerüstet. Das Kuvert von meiner Mutter und meiner Schwester – vielleicht auch meinem Vater – offenbarte mir auf dem Flughafen zwei Gutscheine für den Tower of London und den Eintritt zur Saint Paul‘s Cathedral. Das fand ich wirklich lieb. Endlich startete das Flugzeug. Von meinem Sitzplatz sah ich hinaus und nahm Abschied von meiner Heimatstadt und meinem Alltagsleben.
Der Herr neben mir schien etwas Flugangst zu haben. Nicht einmal voll besetzt, hoben wir Richtung Westen ab. Das Wetter schob Wolken zwischen die Flugzeugfenster und den Erdboden, deshalb bestaunte ich noch die puderzuckerweißen Wolkenformationen einige Momente und versuchte dann, einfach vor mich hin zu dösen. Dann wurde ich von einer vibrierenden Stimme aus dem Off gefragt, ob ich denn nicht gerne in die puderzuckerweißen Fluten springen wolle. Seltsam. Aber nett. Anscheinend war ich sogar eingeschlafen, denn plötzlich kam die Durchsage, wir würden uns im Landeanflug auf London befinden.
Aus dem Fenster blickend sah ich? Genau! Wolken. Welche unglaublich einfach vorhersehbare Überraschung. Egal, weg von dem drögen Alltag, den unzähligen Hürden und langweiligen Wiederholungen. Weg vom nörgelnden Vater, dem unzumutbaren Chef und meinen vier Wänden. Selbst bei Schnee käme ich nicht umhin, mich mal anderweitig umzusehen. Bei der Landung glotzte ich wie gebannt aus dem Fenster. Dann die elend langen Gänge und der Zoll. Nun drängte mich die Neugier nach der Tube. Ich holte mir ganz vorsichtig, wie eine Hummel eine unbekannte Blume ausprobieren würde, so eine Oystercard. Na bitte, klappte doch.
Als ich eine Stunde später mein Hotel betrat, welches nördlich des Hyde Parks lag, merkte ich eine furchtbar schnell aufkommende Müdigkeit. Von außen sah das Hotel mit der viktorianischen Fassade merkwürdig aus. Ein kleines Einbettzimmer beherbergte für mich die gesuchte Liege, das Bad ähnelte meinem und der Ausblick ließ sich ertragen. Mein Magen knurrte. Deshalb die frühe Müdigkeit. Kurz vor dem Abflug sandte mir meine liebe Kollegin Maren noch eine Mail, um mir den Urlaub noch schöner zu reden.
Doch nun? Noch mal raus hier. Es regnete. Klar doch. Entschlossen ging ich noch kurz auf die Jagd nach etwas Essbarem und Getränke für morgen benötigte ich ebenfalls. Erschöpft sank ich gegen neun Uhr auf mein Bett und las noch etwas auf meinem Tablet, welches ich mitgenommen hatte. Ach ja, gleich noch den ersten Blog-Eintrag aus England schreiben, fand ich auch noch eine gute Idee. Irgendwann schlief ich einfach ein.
An diesem Freitagmorgen erwachte ich, so gegen sieben Uhr Londoner Zeit, frisch und ausgeschlafen. Ich duschte, nutzte dazu mein Lieblingsduschbad und ging eine Dreiviertelstunde später hinunter zum Frühstücksbuffet. Die Bedienungen, nur Frauen, hatten diese schwarz-weißen, klassischen Kleider an. Seltsam, aber doch gar nicht so ungewohnt, nur altbacken. Ich bestellte mir ein Kännchen English-Breakfast-Tee. Wennschon, dennschon, dachte ich mir. Zwei Scheiben Toast und etwas Butter mit einer Tomate ergatterte ich vom gut gedeckten Buffet. Das reichte mir. Aha, einen Scone wollte ich schon immer einmal probieren. Nach der ersten Tasse Tee breitete sich in mir ein wohliges Gefühl aus. Wärme. Zufrieden betrachtete ich die Gäste um mich herum. Ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Familien, Geschäftsreisende und zwei ältere Damen gönnten sich ebenfalls ein Frühstück im Souterrain des Hotels.
Es war doch kühl in London. Wie sollte ich den ersten Urlaubstag für mich gestalten? Ach, ich beschloss, nachdem ich mir gestern so famos eine Oystercard gekauft hatte und die Fahrt mit der Tube so einfach und spannend war, in das Herz Londons zu fahren und wie eine typische Touristin einfach nur zu staunen und meinem Fotoapparat ein wenig Arbeit abzuverlangen. Einfach losfahren. Genau. Als ich wieder auf meinem Zimmer ankam, das nicht groß war, aber ausreichend Platz bot, packte ich meine Sachen ein wenig beiseite, platzierte das Pfund-Stück für die Reinigungskraft und blieb bei meiner Kombination aus Tunika und Leggings komplettiert mit einer Biker-Lederjacke. Das sollte heute reichen. Meinen Schirm hatte ich in meiner großen Handtasche verstaut. Im Spiegel sah ich gar nicht so schlecht aus, obwohl mein Gesicht doch abgekämpfte Züge zeigte. Generell fand ich mich dieses Mal mit meinen Unzulänglichkeiten noch ab. Es war schön, am Leben zu sein und beinahe alles selbst im Griff zu haben.
Keine Viertelstunde später saß ich in der Tube und stieg Oxford Circus aus. Die neue Mischung an Mitreisenden empfand ich als so interessant, dass mir das gewohnte Nachdenken über mich und meine Situation nicht einmal im Traum einfiel. Indische Familien und die jungen, feschen Schlipsträger, die ganz anders auf mich wirkten, als daheim, Mädchen und Jungen in ihren Schuluniformen und die typisch britischen Menschen eben. Vom Oxford Circus schlenderte ich in Richtung Picadilly Circus, die Regent Street hinab und bestaunte die fremden Menschenmassen. Die roten Doppeldeckerbusse spuckten hier und da an den Stopps Menschen aus und aßen wiederum eine Traube derer. All die Geschäfte, die entgegen Berlins Art, in vielen Straßenläden untergebracht waren, statt in irgendeiner dieser hässlichen, monotonen und sterilen Einkaufpassagen, wirkten wie Teile eines riesigen, bunten Puzzles.
Diese Vorstellung mochte ich. Sich vorzustellen, wie es hier in den Roaring Sixties zuging, war ein Leichtes. Ich hüpfte also heute von Puzzleteil zu Puzzleteil. Alles wirkte auf mich ein, immer tiefer, bis mir bewusst wurde, dass ich wirklich Urlaub hatte und hunderte Kilometer von zu Hause und dem Job entfernt war. Am Picadilly Circus beschloss ich, mir diesen geschäftigen Platz in der Dunkelheit anzusehen, weil die vielen Lichtreklametafeln, die hier im Übrigen ihren Ursprung hatten, um diese Uhrzeit fade wirkten. Eben tagsüber bei weitem nicht so imposant. Trotzdem versuchte ich, den Brunnen mit Eros obenauf zu fotografieren. Dies gelang mir sogar mit den gerade durchbrechenden Sonnenstrahlen.
Es begann zu nieseln und ich machte mich gemütlich auf, um mir die wichtigste Sehenswürdigkeit anzusehen, das Parliament mit dem Turm und Big Ben darin. Schon von weitem erspähte ich den Waterloo Place mit den beiden Monumenten. Als ich die ganzen viktorianischen, wunderschön in Schuss gehaltenen Häuser erblickte, verführte es mich, mir vorzustellen, wie es vor 130 Jahren hier zuging. Somit zückte ich meinen Fotoapparat und fotografierte wild darauf los. Auch das Licht war perfekt in diesem Augenblick. In mir begann es zu schwärmen. Meine Güte, waren hier aber viele alte, wundervoll verzierte viktorianische Häuser erhalten geblieben. Ganz vorsichtig berührte ich das Monument des Duke of York. Herrlich.
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