Die zweite Versuchung war zu sehr Mutter und nervte nicht nur meine Kinder, sondern auch mich mit zunehmender versuchter Dominanz ihrerseits. Irgendwann nach vier oder fünf Monaten lief das Fass dann über. Schließlich bekam ich von der Mutter der besten Freundin Jennifers den Hinweis, dass diese Eddie, wie sie hieß, mir absprach, die Kinder erziehen zu können. Großspurig verkündete sie, meine Kinder adoptieren zu müssen, um „ihre“ Familie zu retten. Irre, nur Irre in meiner Reichweite. Hätte ich auf Jennifer oder Jason nur gehört, könnte ich immer noch auf mein Image als zuhörenden Vater zurückgreifen. Versagen war so einfach. Zwei Monate lang gab ich mir jede Mühe, den Kindern alles recht zu machen. Doch irgendwann fanden sie es besser, mich nur noch genervt abzuweisen.
Wieder traf es mich tief in meinem Herzen. Was machte ich nur falsch? Was? Die dritte im Bunde der herben Enttäuschungen, war so ein Moneychicken. War zwar super schön, aber nur für das Feiern und Geld ausgeben zu begeistern. Soziale Kompetenz absolute Fehlanzeige. Mitunter benahm sie sich wie ein verzogenes Mädchen. Natürlich konnte ich nicht mehr mithalten, denn meine Kinder waren auch noch da. Nachdem meine rosarote Brille verschwand und ich zwanzigtausend Pfund leichter war, zog ich die Notbremse. Dann, nach zahllosen Versuchen, eine Lösung zu finden, stellte sich bei mir Melancholie und Lethargie ein. Meine Kinder dachten wahrscheinlich, ich brauchte eine Ruhephase.
Doch nun, drei Jahre später, schien Jason immer mehr Angst um mich zu haben. Soll er ruhig. Jennifer gab einfach auf, mich zu fragen oder Mutter spielen zu wollen. Olivia kapselte sich weiter ab. Sie versank in ihre Bücherwelten. Hier saß ich also, neben mir Jason, der vernünftige Sohn. Sein Gesicht ähnelte Barbaras so sehr, dass es mich manchmal schmerzte, ihn anzusehen. Mein Leben war ein theatralisches Drama in unendlich quälenden Akten. Jason stupste mich an, wir mussten umsteigen. Embankment. Als wir beide auf dem Weg zur Central Line waren, überwand ich mich.
„Es tut mir sehr leid, Jason“ , sagte ich unvermittelt.
„Dad, was uns, nein, dir passierte, wuchs doch nicht auf deinem Mist. Versuche einfach nur endlich, ein neues Leben anzufangen. Am allerbesten mit uns“ , erwiderte er mir mit gedämpfter und leiser Stimme.
Verdutzt sah ich ihn an. Verdammt, er hatte Recht. Drei Jahre, ich war schon fünfundvierzig Jahre alt. Die letzten vier Jahre einfach vergeudet. Vielleicht vergaben mir meine Kinder meine Lethargie. Gefangen auf einer Insel und nicht genug Kraft, um mit dem selbst gebauten Floss zu entkommen. Schöner Vater. Er hatte so recht.
„Hmm. Geht es dir wenigstens gut? Erzählst du mir, wenn dich etwas bedrückt?“, unglücklicherweise musste ich gleich wieder aussteigen.
Jason blieb auch stehen, beobachtete zwei junge Frauen, die auf dem Smartphone etwas betrachteten und kicherten. Eine hatte wunderschöne naturblonde lange Haare und ein schmales Kinn. Der anderen jungen Frau fielen die schwarzen Locken in ihr indisches, glattes und nougatfarbenes Gesicht. Welcher von den beiden würde Jason wohl eine Rose schenken, durchfuhr es mein Hirn. Mir würden beide so viel Mut und Hoffnung geben. Bitte lass meinen Sohn eines Tages solch eine wunderhübsche Freundin nach Hause bringen. Mit einem großen Herz und einem Lächeln, was uns derzeit so sehr fehlte. Dann drehte er den Kopf zu mir.
„Ach Dad, ich bin der, dem es in unserer Familie am besten geht. Hab noch einen schönen Tag, ja?“, verabschiedete er mich und ging auf den leeren Platz gegenüber der beiden Frauen zu.
Schnell verließ ich die Station Westminster und lief auf mein Büro zu. Jeden Morgen von der kalten Insel in die brütende Hölle des Parliaments. Es interessierte mich heute aber nicht. Früher verdrängte ich die Sorgen, sobald ich in meinem Büro eintraf. Moment, was hatte Jason mir eben beim Abschied gesagt? Er wäre der, dem es am besten ginge? Was sollte das heißen?
Kaum war ich in meinem Büro eingetroffen, begannen die Intrigen und Ränke auf mich einzuprasseln. Früher mochte ich es doch, Intrigen aufzudecken, meine Position zu vertreten und falsche Ansichten und Fehler zu bekämpfen. Hinzukam, ich redete mir ein, mit meinen Kompromissen diese Welt friedlicher und gerechter zu gestalten. Gerecht? Was war in dieser Welt schon gerecht? Müde, ich war einfach müde von meinem Leben. Hoffnungslos erschöpft von all den Grabenkämpfen ohne jede Vision. Mir war auch klar, dass der Brexit einfach nur falsch war. Total falsch.
Die wussten gar nicht, wie schlimm es ist, ohne Freunde bestehen zu müssen. Bevor ich darüber nachdachte, wem ich was offenbarte, versuchte ich auf der Toilette, meine Gedanken zu ordnen. Jason hatte mir mitgeteilt, dass? Mein Magen drehte sich. War ich wirklich so abgestumpft, dass ich die Probleme von Jennifer und Olivia nicht mehr wahrnahm? Mir entglitt mein Leben, meine Aufgabe als Vater, meine Familie? Das darf ich nicht zulassen. Mein privates Smartphone piepste. Meine Mutter fragte nach meinen Unternehmungen am Wochenende. Das auch noch.
Genervt stand ich auf, schaltete das Smartphone aus und kehrte in mein Büro zurück. Meine Liste der zu erledigenden Arbeiten war lang. Heute wollte ich früher nach Hause. Wollte? Ich musste! Die geweckten Sorgen um meine Töchter begannen in mir, an meinen Nerven zu nagen. Also setzte ich mir Ziele, die ich bis zum Mittag erledigt haben wollte. Leidlich kam ich voran, denn diese so geliebte Bürokratie kniff mich, zwickte meine Nerven und schlug immer wieder auf meinen Kopf. Genug, ich würde gleich Essen gehen. Obwohl, ein Sandwich sollte es auch tun. Und siehe da, mein gesetztes minimales Pensum hakte ich zufrieden ab. Nachdenklich stand ich auf und entschied mich für einen der Sandwichläden. Bloß keinem Kollegen oder Mitarbeiter begegnen. Nahm meine Jacke und schaute nur kurz bei meiner Assistentin hinein, die wirklich eine Assistentin war, keine Sekretärin. Jedoch mein Angebot, ihr etwas mitzubringen, lehnte sie erstaunt und sehr freundlich lächelnd ab. Wie lange saß sie schon dort? Bestimmt vier Jahre. Mindestens. Nichts wusste ich über sie, gar nichts. Es gab nur zwei wichtige Pfeiler, meine Familie und meine Arbeit.
Als ich hinaustrat, holte ich tief Luft, um mir zu beweisen, dass ich doch kein Zombie war. Dann fiel mir der Pret-A-Manger-Laden in der Tothill Street ein. Zu Fuß genau die richtige Entfernung. Und in so einem „Schuppen“ begegnete ich höchstens meiner Assistentin aber keinem der anderen hochtrabend faselnden Herren des Hauses. Nie kam ich mir unnütz vor, heute irgendwie schon. Meine Töchter. Was mag mit ihnen los sein? Ablenken, mit der Überlegung, was ich mir wohl kaufen würde.
Ein Tee – Darjeeling – wäre toll. Mich fröstelte, weil ich Idiot Sommerklamotten angezogen hatte. Dann bevorzuge ich heute eine Suppe. Immer noch nicht angekommen, sah ich den Verkehr und wäre beinah in einen Fahrradfahrer hinein gelaufen. Erst setzte der zu einer Schimpftirade an, dann erschreckte ihn anscheinend mein Gesicht. Darum machte ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Gleich war ich da, wieder einen Punkt heute geschafft.
Die Flucht zurück
Samantha Willer, Berlin-London, September 2015, Freitag
Als ich gestern endlich meinen Platz im Flieger gefunden hatte, die 14 E hatte ich ausgewählt, begann ich, mich zu entspannen. Dieses Familientreffen nach meinem sehr kurzen Arbeitstag fing erwartet anstrengend an, als mein Vater wieder einmal auf mir herumhackte.
„Guten Tag, kinderlose Tochter. Wie sieht dein Liebesleben aus, endlich fündig geworden?“ , nervte er gleich los.
Wie immer bei diesen Nachfragen und Bemerkungen überdachte ich meine Entscheidung, mein Geheimnis meinen Eltern immer noch nicht zu offenbaren. Denn, was er und Mutter nur nicht wussten, war der Umstand, dass ich ihnen nicht erzählt hatte, keine Kinder gebären zu können. Meine Operation, die diesen Umstand auf Grund einer früheren Begebenheit notwendig machte, verkaufte ich damals als Urlaubsreise nach München. Also eine Lüge in einer Wahrheit verpackt. In dieser Zeit waren meine Eltern so sehr mit meiner Schwester, deren Heirat und der Geburt ihres Kindes beschäftigt, dass ich diese positiven Ereignisse nicht durch meine negativen Erlebnisse trüben wollte. Mein Vater fand meine Berufswahl schon abartig, da wollte ich nicht noch den Eindruck erwecken, dass ich unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte. Allerdings tröstete mich meine Schwester, nachdem ich ihr meine Unvollkommenheit gebeichtet hatte, vier Jahre nach der Diagnose. Sie verstand mich seitdem viel besser, als ich mir die Reaktion ihrerseits eingeredet hatte. Liebevoll bedachte sie mich immer mit dem Hinweis, mir beizustehen.
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