Regnerische Familie
George Haggerthon, London, September 2015, Freitag
Als ich in der Küche eintraf, entdeckte ich nichts Neues. Viel zu kurz schlief ich in letzter Zeit. Meine Sorgen und Nöte drängelten sich vor den dringend notwendigen Schlaf. Meine Kinder schienen in den letzten Monaten mit sich beschäftigt zu sein. Jason lernte neben seinem morgendlichen Müsli für seine Klausur und versuchte, den Sticheleien Olivias mit Ignoranz auszuweichen. Er kam ganz nach mir. Warum auch immer sie das ihrem Bruder oder ihrer Schwester antat, wusste ich immer noch nicht. Ab und an fragte ich sie, jedoch verschwand Olivia dann einfach mit ihrer herzzerreißend leidenden Miene in ihrem so gar nicht typisch eingerichteten Zimmer. Sie war brünett, hatte also Barbaras Haare und meine grünen Augen. Aus ihr sprach bereits der Zynismus, um diese Welt zu ertragen.
Wenn sie ebenfalls so aufgeweckt wie ich werden sollte, stünden mir einige schwere Jugendjahre bevor. Nun, zwölfjährige Mädchen schienen ebenso schwierig wie Jungs zu sein. Dürfte doch in diesem Jahr bei Olivia bereits die viel gepriesene Pubertät zuschlagen. Mit Jennifer, ihrer drei Jahre älteren Schwester, erlebte ich das vor eben drei Jahren. So deutlich erinnerte ich mich daran, als wäre es gestern. Meine älteste Tochter hingegen trug heute ihre Schuluniform wieder offenherzig, worüber ich mich nicht mehr aufregte, seit es für mich einfach keinen Sinn mehr ergab, bei ihr für irgendwas einzustehen. Ihre wundervollen schwarzen Haare, die sie von mir geerbt hatte, wurden von den blauen Augen meiner verstorbenen Frau komplettiert. Der Pferdeschwanz gefiel Jennifer anscheinend zur Schuluniform besonders gut. Sie war schlank, eher eine dieser typischen hochnäsigen Schulschönheiten, vermutete ich jedenfalls. Das war mir eigentlich gar nicht recht, aber die eigenen Kinder ähneln einem eben nur. Meinen Verdacht, sie hätte schlechten Umgang, müsste ich erst noch beweisen. Allerdings roch ich oft Zigarettenrauch an ihren Sachen. Jennifer hatte meine Hartnäckigkeit, ihr Leben betreffend, geerbt. Die Energie, ihr Paroli zu bieten, wurde mir durch die vergangenen Erlebnisse geraubt. Bald stand Jennifers Geburtstag an, der Sechzehnte. Ehrlich gesagt, hatte ich keinen Schimmer, was ich ihr denn schönes zu ihrem ersten großen Geburtstag auf dem Weg ins Leben bieten könnte.
Eigentlich hatte ich in den letzten vier Jahren den Bezug zu meinen Kindern verloren. Ihr Anblick erinnerte mich an meine verstorbene Frau. Diese Küche auch. Sie ist das einzige überlebende Element der damaligen viel zu perfekten und wunderschönen Zeit in diesem Haus, worin ich die Vergangenheit nahezu jeden Tag erneut schmerzlich erlebte. Als Olivia mich erblickte, ging ich um Munterkeit bemüht zur Kaffeemaschine und ließ mir einen Kaffee brühen. Doch eigentlich widerte mich schon der Geruch von Kaffee wieder regelrecht an. Ein Glas Wasser tat es auch. Oft erinnerte mich der Geruch an meine verstorbene Frau, die den Kaffee auf die gleiche Art, wie ich ihn trank, mochte. Als ich mich zu den drei Kindern umdrehte, sahen die drei mich an, als wäre ich ein Zombie, ein lebender Toter. Jason kniff etwas seine Augen zusammen, er erinnerte mich an meine Barbara. Olivia hingegen runzelte die Stirn, weil sie von meinen Erlebnissen nichts wusste. Schief den Kopf geneigt, beobachtete mich Jennifer argwöhnisch.
Barbara starb bei einem ungeklärten und sehr mysteriösen Autounfall vor neun Jahren. Seit neun Jahren erwachte ich jeden Tag aufs Neue und hoffte auf der anderen Bettseite, wie durch ein Wunder, Barbaras glückliches Gesicht ansehen zu können. Mit ihrem Lächeln begrüßte sie mich, wie jeden Morgen, mit einem Kuss auf meine Nase. Unwillkürlich hob ich meine linke Hand und berührte meine Nase. Jennifer seufzte entnervt und verschwand aus der Küche. Sie kannte das Ritual, von ihren Momenten, als sie noch bei uns im Bett den Morgen verbracht hatte. Damals liebte sie das Ritual abgöttisch.
Mist! Jason holte tief Luft und schüttelte traurig den Kopf. Ja, ich müsste in eine Therapie. Besser, ich war bei einer Therapie, doch die half mir nicht weiter. Melancholie, die sich wieder in Richtung Depression verlagerte, konnte ich nicht gebrauchen, weder hier in meiner Familie noch dienstlich. Als Politiker ging das einfach nicht. Nach dem Tod meiner Barbara brach die Hölle über uns herein. Finanziell gar kein Problem, emotional für die Kinder tat ich alles Erdenkliche, damit sie möglichst unbeschadet diese Katastrophe überstanden. Beruflich zog ich mich einfach von einigen Aufgaben zurück. Gekämpft hatte ich, damit meine Kinder möglichst diesem Boulevard-Mob entkamen. Meine Mutter half mir immer wieder, wofür ich ihr sehr dankte.
Damals verhielt sie sich konträr zu dem sonst kühlen britischen Gebaren meiner Familie. Doch wusste ich instinktiv, dass sie nur die Form wahren wollte, wie mein Vater es indoktriniert hatte. Dieser Kampf kostete mich sehr viel Energie und veränderte mich zusehends zu einem Vaterebenbild, der nicht seinem Vater ähneln wollte. Immer wieder rief meine Mutter Diana mich an und erkundigte sich nach unserem Befinden. Mittlerweile holte sie mich immer wieder zurück aus meinem Sumpf an Trauer, Pflicht, Politikergesäusel und -betteln. Auf der anderen Seite trafen mich die vollkommen unbegründeten Vorwürfe meiner Schwiegereltern ganz tief in meiner Seele. Den Vorwurf, ich hätte dabei sein sollen, konnte ich nur mit der Vorstellung stillen, dass dadurch drei Waisen in dieser Welt hinzugefügt worden wären. Je öfter ich mich im Spiegel betrachtete, desto weniger gefiel ich mir. Vielleicht hatten meine Schwiegereltern recht, denn meinen Kindern tat ich nicht gut. Dieser Schmerz gewann immer öfter die Oberhand. Diese Küche gefiel mir nicht!
Als ich mit dieser immer wiederkehrenden Selbstverurteilung endlich am Ende war, brachte ich erst Jennifer und Olivia in deren Privatschule und danach parkte ich meinen Jaguar in der Nähe der Underground Station, um mit Jason in Richtung City of Westminster zu fahren. Diese Fahrten ähnelten eher einem Trauerzug, weil niemand von uns beiden ein Wort über seinen Lippen hervorbrachte. Nach den zahllosen Streitereien zwischen mir und meinen Kindern ergab ich mich letztlich einfach irgendwann in mein Schweigen. Vielleicht deuteten meine Kinder dies als Strafe oder als Aufgabe meinerseits. Zumindest taten sie kund, dass sie es mir positiv anrechneten, meinen Verpflichtungen in finanzieller Hinsicht nachzukommen. Northern Line. Jeden verdammten Werktag, manchmal auch am Wochenende. Die gemeinsamen familiären Unternehmungen wurden immer seltener. Mein Pensum heute schien mir unerträglich lang zu werden.
Freitag. Vielleicht doch wieder versuchen, irgendeine Frau treffen? Schließlich schien mein Aussehen immer noch zu punkten, wenn ich die Reaktion der Damen in den letzten Jahren in meiner Erinnerung abrief. In den letzten neun Jahren schleppte ich ohne eigene Bemühungen drei Frauen nach Hause, alle mindestens zehn Jahre jünger. Die erste, kennengelernt zweieinhalb Jahre nach dem Tod Barbaras, wollte mit meinen Kindern nichts zu tun haben. Das war der Horror, denn ich dachte, sie würde schon irgendwann Kontakt knüpfen. Diese Frau, Priscilla hieß diese Eroberung, sah meiner verstorbenen Frau sehr ähnlich. Gleiche Größe und Haarfarbe, eleganter Stil und britisches Benehmen, was mir recht war. Die ausgelebte Antipathie zwischen meinen Kindern und ihr erwies sich als beiderseitig sehr fruchtbar für Unkraut. Ich hasste Unkraut. Nicht nur in meinem Garten. Es gab Szenen, die mich immer noch erschauern lassen. Regelrechte verbale Schlammschlachten spielten sich am Ende dieser fatalen Beziehung zwischen meinen Kindern und ihr ab.
Nach nicht einmal zweieinhalb Wochen gemeinsamen Familienlebens erwischte ich sie mit einem jüngeren Mann in dem Pub, in dem ich sie kennengelernt hatte, meinem damaligen Stammpub. Hinzukam ihre Aussage, als ich sie zur Rede stellte, dass meine Kinder degeneriert und hässlich wären. Das war ein für alle Mal genug. Damit verlor ich nicht nur diese Frau, sondern konnte auch nicht mehr diesen netten lieb gewonnenen Pub besuchen. Der Wirt achtete immer auf mich, weil er auch Barbara kannte. Eigentlich erinnerte mich der Pub immer an meine glücklichen Zeiten. Ach, das war auch so ein herber Tiefschlag, der mich beinahe um meinen Verstand brachte. Die Überwindung, dort wieder einzukehren, brachte ich einfach nicht über mein Herz. Nähe Leicester Square befand sich dieses kleine und feine Od. Zu Fuß konnte ich immer in die Kulturszene abtauchen. Die Bahn fuhr ein und ich hing weiter meinen dunklen Gedanken über mein Leben nach.
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