»Ach?«, fiepte Claudia. »Wieso vermiete ich nicht einfach mein Gästezimmer?«
Ich zuckte mit den Schultern, als könne sie es sehen. Die Süßigkeit brannte in meinem Rachen. Über Claudias Minderwertigkeitsideen mir gegenüber hatten wir schon öfter gerätselt und waren auf keinen grünen Zweig gekommen. Es ging wohl um so subtile Geschichten wie die Verteilung liebevoller Blicke, kleiner Streicheleinheiten mit einem zärtlichen Über-den-Schopf-fahren oder das Geschenk eines mütterlich liebenden Lächelns. Es ging um das Leuchten in stolzen Mutteraugen. Claudia fand, dass sie weit schlechter dabei wegkam als ich.
»Du hältst doch eh nichts vom Laufen, oder?«, sagte ich zu meiner Verteidigung. Ich hörte sie noch schimpfen, wie viele Kilometer sie täglich in der Klinik ableistete, und dass sie es verdient hätte, sich am Wochenende auf die Couch vor den Fernseher zu fläzen. »Und Mama will unbedingt in den Hessenpark und dann im Taunus spazieren gehen«, fügte ich an. Außerdem drehte Mama an ihrem Hochzeitstag allein in ihren vier Wänden in Friedrichsdorf-Burgholzhausen durch, seit Paps verstorben war. Alles erinnerte an ihn, auch wenn sie selbst nur noch den ersten Stock bewohnte, den sie nach dem Brand neu hatte hochziehen lassen.
An dieser Stelle hielt ich es für angebracht, das Thema zu wechseln. »Und du, Maus? Was hast du so gemacht die Tage? Was habt ihr gemacht, du und Mika?« Ich lachte auf. Das reizte auch den Grünen auf meiner Schulter zum Lachen. »Es ist doch noch Mika?« Eine berechtigte Frage. Claudia wechselte die Partner wie die Frisuren.
»Mika? Wieso Mika? Seit gestern heißt mein Schatz Tom.«
»Na bitte.«
»Erwischt«, lachte sie. »Du hast falsch gedacht. Mika ist aber so was von aktuell. Du, das könnte was Ernstes werden!«
Ich staunte Bauklötze.
»Ist nicht wahr?«
»Wir sind jetzt offiziell verlobt.«
»Claudi, Claudi. Ich muss mich sehr wundern. Du wirst doch am Ende nicht sesshaft?«
Sie seufzte. »Abwarten. Er ist wunderbar. Engt mich nicht ein.«
»Kunststück. Bei deinem Freiheitsdrang.«
»Und was treibt mein Lieblingsschwager so?« Nun, der Begriff des Lieblingsschwagers relativierte sich, wenn man bedachte, dass es nur diesen einen gab. Ich spürte, wie sich meine Schultermuskeln spannten und mein Lächeln irgendwie bitter wurde. Der gestrige Abend stand schlagartig vor mir. Der Abend und Roja.
»Treffen?«, lenkte ich ab. »Um Zwölf im Café Mozart?« Das nostalgische Cafè in einer Parallelstraße der Frankfurter Zeil bot eine leckere Kuchenauswahl und duftende Crépes und war für mich und mein Handicap in einer verlängerten Mittagspause ein passender Abstecher.
»Nice idea«, meinte Claudia. »Vielleicht ein andermal. Ich treffe Mika um zwölf, schlafen muss ich auch irgendwann. Bin total gerädert, in der Klinik ist zurzeit die Hölle los.«
»Die Hölle?«
»Ansonsten ist die Omi in Zimmer achtzehn ja echt eine Süße. Faselt viel von ihrem Sohn in Florida und so, Disneyland, Mickey Maus. Ganz unterhaltsam.«
»Aber?«
»Hat ein Darmproblem. Und immer die Finger in der Windel.«
»Claudi, ich bewundere dich ...«
»Ich könnte dir Storys erzählen ...«
Oh ja, das könnte sie. Und sie erzählte reichlich, während unserer Telefonate. Von Machos, die die einzige Krankenschwester auf der Station als persönliches Eigentum betrachteten, oder von Opas, die nachts aus der Klinik türmten, um auf Weltreise zu gehen oder sich wenigstens einen entspannenden Kurztrip in die Eros-Center der Frankfurter Kaiserstraße zu genehmigen. Ich hatte stets ein offenes Ohr. Irgendwo brauchte jeder seine seelische Müllhalde.
Im Hintergrund hörte ich ein Geräusch, als ob Bestecke klapperten.
»Stichwort Hölle«, fuhr Claudia fort. »Dazu fällt mir glatt die Wasserleiche ein.«
»Du meinst den Pfarrer? Wie hieß er gleich?«
»Keine Namen, bitte. Du hattest den doch nicht auf dem Tisch?«
Die Frage konnte sie sich selbst beantworten. Mein Institut im Herzen Frankfurts war eine viel zu unbedeutende Klitsche für solch brisante Fälle. Mit Sicherheit hatten Heilmanns Bestattungen im Westend den Zuschlag gekriegt.
Ein Gummibärchen starb den Sekundentod.
»Er war mein Patient«, fuhr Claudia fort.
»Mit Darmproblem?«
»Nö. Nierenspende. An seine seltsame Schwester.«
»Seltsam?«
»Die Wortbedeutung ist: unkonventionell, fremdartig.«
»Herzlichen Dank, Frau Lehrerin.«
»Unkonventionell, genau. Sie erinnerte mich an Dana. Aber das Wunderliche scheint in deren Familie zu liegen. Wer wird denn schon freiwillig Pfaffe?«
Da lag mal wieder ein wunder Nerv von ihr blank. Über Religionen und Sekten, den Herrgott und sein Fußvolk, hatten wir nächtelang diskutiert. Claudia war schließlich aus der Kirche ausgetreten. Ich bewunderte ihre Konsequenz. So wirklich war ich selbst von den jeweiligen Vereinen nicht überzeugt, doch ich redete mir ein, dass es sich für eine Bestatterin besser machte, wenn sie sich in puncto kirchliche Zeremonien auskannte. So blieb ich halbherzig der katholischen Kirche, auch mit meinen jährlichen Spenden für das Glockengeläut, erhalten.
»Erklärst du mir den Zusammenhang?«, bat ich Claudia. »Ich meine: Nierenspende mit Hölle.« Geno plusterte sein Köpfchen auf. Ich durfte ihn kraulen.
»Die Hölle, das sind die Polizisten. Schleichen seit Tagen auf meiner Station herum und gehen mir mit ihren Fragen gehörig auf den Zeiger.«
»Verstehe. War es Suizid bei dem Pfarrer?«
»Kommst du, in die Acht?«, hörte ich die Stimme einer anderen Schwester.
»Riecht eher nach Mord«, erwiderte Claudia auf meine Frage.
»Woher weißt du das?«
»Was ein junger Polizist schon mal so plappert. Nicht jeder kennt so was wie Schweigepflicht.«
Ich nickte und schmunzelte.
»Was ist denn jetzt?« Die Stimme im Hintergrund drängelte.
»Na dann«, sagte Claudia. »Very nice, dich zu hören. Ach, und von wegen Pfaffen und anderen Teufeln: Pass gut auf dich auf, Schwesterherz, wenn du nachts allein durch die Straßen wandelst.«
»Was heißt das nun wieder?« Und seit wann wandelte ich?
»Liest du keine Zeitung?«, meinte sie, ungerührt der Drängerin.
»Ach so, das.« Sie sprach von der Teufelssekte, die seit Jahren mitten unter uns lebte, und die Tage im Frankfurter Stadtwald bei einer Orgie erwischt worden waren, wo sie wie losgelassene Teenies ihren Messwein tranken und eine Wasserpfeife schmauchten. Harmlos und irgendwie süß.»Wärst denen eh ein viel zu zäher Brocken«, frotzelte Claudia.
»Wie meinst du das?«
»Die neuen Apostel, so munkelt man, opfern bei ihren Messen zur Not auch Tiere.«
»Zur ... Not? Du meinst ...« Das glaubte sie nicht im Ernst. Menschenopfer? Wir lebten doch nicht im Mittelalter.
»Keine Sorge«, sagte ich noch. »Mein Rollstuhl ist schneller, als der Teufel erlaubt.«
Claudia stimmte in mein Lachen ein. Ich fürchtete mich nicht vor den Teufelsanbetern. In Wahrheit waren sie Laschis mit kleinem Selbstwertgefühl. In diesen Gruppen ging es doch viel weniger um Satan als um Macht und Geld, es ging um die Hierarchie in den eigenen Reihen.
Claudia und ich verabredeten uns für Dienstag. Am Montag fand ich reichlich Gelegenheit, den Koffer zu leeren, die Wäsche zu waschen und mit dem Staublappen durch die Wohnung zu fahren. Die Fenster starrten vor Dreck, der Osterputz war fällig, doch das mochte Georgina, meine Hilfe, erledigen.
Carlos belegte noch das Bad. Um halb acht würde er aufbrechen ins Goethe-Gymnasium. Mona war in diesen Augenblicken schon auf dem Weg zu einem Kunden. Ich hingegen wollte hinunterfahren ins Institut, Pit begrüßen und die aktuellen Vorgänge besprechen. Im selben Moment stand der vierzigjährige Bommersheimer aber schon vor meinem Schreibtisch, mit seinem schiefen Schulbubengrinsen und dem kurzgeschorenen Haar. Bestatter war so ungefähr das Letzte, woran seine schlaksige Erscheinung und das Gesicht mit der schmalen Goldrandbrille erinnerten. Eher hätte man ihn in die Schublade Grundschullehrer gesteckt, doch wer einmal einen Arbeitsbericht von ihm gelesen hatte, zweifelte auch an dieser Variante: Pit schrieb, wie ihm der Bommersheimer Schnabel gewachsen war.
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