Als sich Stella dieser mutigen Ungeheuerlichkeit bewusst wurde, stahl sich ein unsicheres Lächeln in ihre Züge. Sie war sonst nicht so spontan. Eigentlich hatte sie es ganz gerne, wenn das Leben vorhersehbar verlief. So hatte sie es die letzten Jahre gehalten, und es war gut so. Sie fühlte sich einfach sicherer. Auch wenn einige ihrer Freunde, allen voran Bernd und Julia, sie deswegen gerne als „Spießerin“ bezeichneten, ließ Stella sich nicht darin beirren. Ihren Freund Bernd stehen zu lassen und mit einem völlig Fremden – zugegeben einem sehr anziehenden, charmanten Fremden – mitzugehen, gehörte definitiv nicht zu diesem Lebensplan. Hinzu kam: Was sollte dieser Mann nur von ihr denken? Dass sie sehr leicht zu haben war? Es vielleicht sogar nötig hatte? Oh weh!
Zorros offensichtlicher Freude über ihre Antwort nach brauchte sie sich aber nicht weiter zu grämen. Kurz wirkte es sogar so, als wollte er sie vor Überschwang mit beiden Händen an der Hüfte fassen und hochheben. Dann schien er sich zu besinnen und nickte mehrmals hintereinander.
„Gut, das ist sehr gut!“
Stella löste seinen Umhang von ihren Schultern und gab ihn zurück. Mit der rasch gemurmelten Erklärung „kurz meinen Mantel holen“ und „Bescheid sagen“ wandte sie sich fast flüchtend ab und betrat wieder die Bar.
Nur ein Flirt im Karneval
Steven blickte ihr durch die Glastür nach. Als sie in der tanzenden Menschenmenge verschwand und der Vorhang des Windfangs sich schloss, fehlte sie ihm sofort schmerzlich, und er musste tief einatmen, um es zu ertragen. Nun fröstelte auch er leicht. Er schaute sich um. Das knutschende Paar war verschwunden, und an deren Stelle flachste jetzt eine Gruppe Raucher vergnügt miteinander.
Er legte wieder den Kopf in den Nacken und schaute seinem dampfenden Atem Richtung Sternenhimmel nach.
„Stern, was tust du mit mir? Was willst du von mir? Vor allem: Warum jetzt?“, fragte er sich still.
Die letzten Wochen hatte er sich voll auf den Designwettbewerb konzentriert. Im kommenden Monat sollte die Präsentation der Entwürfe in Toronto stattfinden. Er hatte schlicht überhaupt keine Zeit für „so etwas“. Was also sollte dieses übermächtige Gefühl, das ihn erfüllte? Er wagte kaum, den Schritt weiter zu denken und sich einzugestehen, was es sein könnte.
Dennoch stand ihm mit einem Mal das Bild seines Vaters vor Augen, wie dieser leidenschaftlich versucht hatte, Steven klarzumachen: „Man weiß einfach, wenn es die Richtige ist!“
Aber das war doch Unsinn. Er kannte diese Frau doch überhaupt nicht, wusste noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Wenn es hochkam, hatten sie zehn Sätze miteinander gewechselt. Was, wenn sie unbeschreiblich dumm war? Warum war sie ohne Mann hier? Da musste doch was faul sein? Oder hatte sie etwa einen? Vielleicht sah sie ihn nur als Karnevalsflirt – was er im Übrigen auch tun sollte! Vielleicht war es das jetzt auch gewesen, und sie ließ ihn hier einfach stehen.
Steven konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit die Sternenfrau ihn verlassen hatte. Mit einem Anflug leichter Unruhe schaute er auf die Eingangstür. Die Raucher befanden sich noch an Ort und Stelle, und der Musikrhythmus hämmerte weiter. Eine unangenehme Windböe zerrte an seinem Umhang.
Stella hastete in das warme, stickige Lokal und fühlte sich wie ein fremdes Wesen inmitten der ausgelassen feiernden Menschen. Während sie sich durch die Menge schob, um zu Bernd zu gelangen, hielt sie zum ersten Mal inne und ermahnte sich dazu, das Geschehene logisch zu erfassen und zu systematisieren, wie sie es immer bei den Anliegen ihrer Klienten tat.
Unzweifelhaft fühlte sie sich von diesem gut aussehenden Unbekannten sexuell angezogen. Das war ja bloß Chemie. Pheromone, auf die ihre Hormone reagierten, konnten aber doch nicht erklären, weshalb es sie so unfassbar stark zu ihm hinzog. Schließlich war sie kein Teenager mehr und hatte bereits einige Beziehungen hinter sich. Aber noch nie, nein, wirklich niemals, war ihr jemand auf Anhieb so vertraut gewesen, fühlte sie sich einem Mann so zugehörig. Sie ließ bei ihm alle Errungenschaften der modernen, emanzipierten Frau sausen und wollte nur von ihm beschützt und gehalten werden. Und dabei pumpte ihr gieriges Herz Unmengen von Hitze in ihren Unterleib, sodass Stella an sich halten musste, ihn nicht anzuspringen, mit ihren Beinen zu umschlingen, sich an seinem engen Trikot zu reiben und ihren Mund keuchend auf seinen Hals zu pressen.
Stella wankte leicht, entsetzt über diesen Gedanken. Das kannte sie, die allzeit Beherrschte, von sich nicht. Wie gut, dass eines der japanischen Handys sie rasch stützte. Bevor der Typ sie wieder in ein Tänzchen verwickeln konnte, entklettete sie sich schnell und erreichte schwer atmend den Tisch von Bernd und Rory.
„Darling“, rief Rory sofort, „Was ist denn mit dir passiert?“
Bernd umrundete umgehend den Tisch und nahm sie besorgt in den Arm, während er sie fragend musterte.
„Das wüsste ich ehrlich gesagt auch gerne“, murmelte Stella. Sie straffte sich, vermied Bernds Blick und versuchte, in möglichst nüchternem Ton zu sagen: „Hört zu! Ich habe jemanden kennengelernt und werde mit ihm noch auf eine andere Party gehen.“
Bernd verschluckte sich fast an seinem Drink und schaute sie merkwürdig an. Dann zeichnete sich langsam ein sattes Grinsen auf seinem Gesicht ab.
„Ach, nee!? Du hast jemanden kennengelernt?“, wobei er das Wort „kennengelernt“ mit kurzen Finger-Gänsefüßchen markierte. „Das ging aber flott. Deinem hormongefluteten Gesichtsausdruck nach ist er der Mann deiner Träume. Darf ich den Guten mal sehen?“
Stella seufzte. War ja klar, sie konnte Bernd nichts vormachen.
„Kannst du nicht. Es ist Zorro, und er ist schon vorgegangen und wartet auf mich“, fiel ihr auf die Schnelle ein. „Deshalb muss ich auch schnell los“. Sie griff ihren Mantel und ihre Goldclutch, die sie auf der Fensterbank beim Tisch der beiden deponiert hatte.
„Ach, Schätzelein!“, strahlte Bernd und nahm sie fest in die Arme. „Ich wünsch dir einen superschönen Abend! Ruf mich bloß morgen an, bevor du in die Schweiz düst. Und grüß Julia ganz herzlich von mir.“
Stella tat die Umarmung gerade jetzt sehr gut, und sie drückte Bernd ebenso innig zurück. Sie fühlte sich auf einmal schwach und gleichzeitig sehr stark und voll Zärtlichkeit.
„Mach ich. Dir auch noch viel Spaß. Und danke, dass du mich überredet hast, zu kommen. Rory ist übrigens toll.“
Bernd blickte Stella prüfend in die Augen. „Mannomann, dich hat es aber erwischt. Gib auf dich Acht, Mädchen!“ Und als Stella schon drei Meter entfernt war, rief er ihr zur Belustigung der Umstehenden lautstark hinterher: „Benutz aber ein Kondom, ja!“
Stella verdrehte lachend die Augen, fasste sich theatralisch an die Stirn, blies noch einen Luftkuss in seine und Rorys Richtung und zwängte sich Richtung Tür. Kurz vor dem Windfang nagte leichte Panik an ihr, ob er überhaupt noch auf sie wartete. Sie holte tief Luft und rückte mal wieder ihren Sternen-Kopfschmuck zurecht. Mit Herzklopfen trat sie nach draußen.
Ihr Herz flackerte hoffnungsvoll auf, als Zorro sich ihr zuwandte und sie ruhig ansah. Kurz meinte Stella einen verletzlichen Zug um seinen Mund zu sehen, bevor er sie anstrahlte und flüsterte: „Schön!“
Plötzlich war die Stimmung befangen. Stella räusperte sich.
„Tja, da bin ich. Wir können los. Wie kommen wir hin?“
In diesem Augenblick näherte sich auf der anderen Seite des Ubierrings eine Straßenbahn.
„Komm, die nehmen wir!“
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