„Da, ich hab´s! Das ist ja unglaublich! Das kann es doch gar nicht geben!“ Die beiden Techniker trauten ihren Ergebnissen nicht. Sofort eilten ein paar Wissenschaftler hinzu, um zu sehen, was sie entdeckt hatten. Jetzt hielt es auch Baumann nicht mehr auf seinem Platz. Er kam dazu und drängte sich durch die Menschentraube. Nachdem man ihm die Ergebnisse gezeigt hatte, forderte er einen Präzisionsroboter für die nächsten Messungen an.
Der Roboter wurde vor dem Artefakt fest fixiert, dann befestigte man einen Messfühler an seinem Sondenarm. Schließlich startete die Maschine und führte die Befehle aus, die Baumann in der Zwischenzeit eingegeben hatte. In einem Abstand von zehn Zentimetern vor dem Objekt wurde die Temperatur gemessen, anschließend halbierte der Roboter die Entfernung, dort erfolgte die nächste Messung. Dann wieder eine Halbierung des Abstandes. So ging es weiter bis zwischen der Sonde und dem Objekt der Abstand so gering war, dass nur noch ein Atom dazwischen passte. Die ganze Zeit ließ Baumann den Roboter nicht aus den Augen, während Sampi mit den anderen Wissenschaftlern den Vorgang über die reichlich vorhanden Aufnahmegeräte verfolgte. „Das war’s“ rief Baumann, damit ihn auch alle verstanden. „Die Messreihe ist abgeschlossen. Treffen wir uns in dem großen Besprechungsraum, um das Ergebnis zu diskutieren und das weitere Vorgehen festzulegen.“
Der Raum war wie ein Vorlesungssaal aufgebaut. Alle der nahezu hundert Wissenschaftler und Techniker hatten einen hervorragenden Blick auf das Geschehen im Zentrum. Zusätzlich war jeder Platz mit Bildschirm und Kommunikationsmitteln ausgestattet. Schließlich gab es noch einen Großbildschirm, der im Hintergrund die gewünschten Informationen darstellte.
Baumann erläuterte die Messergebnisse: „Um es vorwegzunehmen, der Kollege hat sich tatsächlich Erfrierungen zugezogen.“ Er schaute zum rechten Rand der vorderen Sitzreihe, dort saß das „Opfer“ mit einer verbundenen Hand. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, an der Besprechung teilzunehmen. „Das Artefakt hat eine Eigentemperatur von 0,3° Kelvin. Es ist eines der kältesten Objekte, das uns je begegnet ist. Aber das ist nicht das Erstaunlichste. Schon einen Nanometer von der Oberfläche entfernt herrscht normale Raumtemperatur. Hier findet absolut kein Energieaustausch statt.
Die Temperatur lässt sich nur bei direktem Kontakt messen. Ich habe noch mal Forsters Bericht gelesen. Seine Beobachtungen passen in das Bild. Keinerlei Strahlung durchdringt das Teil. Es nimmt nicht die geringste Energie auf, auch keine Wärmeenergie. Es scheint so, als ob das Artefakt gar nicht in unserer Raum-Zeit-Dimension existiere. Ich fürchte, die Rätsel um das Objekt werden wohl mit jeder Untersuchung größer. Wir diskutieren jetzt die weitere Vorgehensweise und legen einen Untersuchungsplan fest.“
Es wurde eine sehr, sehr lange Besprechung. Am Ende hatten einige Wissenschaftler Zweifel, ob man dem Artefakt überhaupt ein Geheimnis entlocken konnte.
„Nun“, sagte Forster, „das ist alles, was ich dazu sagen kann. Ich konnte keine Regelmäßigkeit bei den Energieausbrüchen feststellen. Die zeitlichen Abstände dazwischen und die unterschiedliche Intensität scheinen einem chaotischen Rhythmus zu unterliegen. Auch die komplizierten Umlaufbahnen der drei Sonnen um sich selbst ergaben keinen Algorithmus, der darauf passte. Man könnte meinen, die Ausbrüche wären nicht natürlichen Ursprungs.“
Nathan antwortete mit Bedacht. „Deine letzten Bemerkungen sind jetzt aber sehr hypothetisch. Ich gehe eher davon aus, dass es eine Erklärung gibt, für die uns bisher einfach keine Anhaltspunkte vorliegen. Wir werden also eine Zeit lang mit diesem Rätsel leben müssen. Deshalb schlage ich vor, wir lassen die Sache vorerst ruhen und ich verspreche dir, dass ich dich an der Lösung des Problems auf jeden Fall beteiligen werde. Was hältst du davon, selbst dort hinzufliegen und nachzuschauen? “ „Seit wann machst du Witze? 4,243 Lichtjahre! Soll ich zu Fuß gehen, oder wie stellst du dir das vor?“ „Nun, wenn du dich mit meiner Entstehungsgeschichte befasst hättest, wüsstest du, dass ich auch zum Scherzen in der Lage bin. Aber das meinte ich ernst. Ich schicke dir ein Informationspaket über das Experimentalschiff Explorer. Du kennst doch sicher den Piloten Husani Nelson Mandela?“ „Oh ja, der Urenkel von Nelson Mandela, die Geschichte kennt wohl jeder in der Raumfahrtbranche. Was hat er denn angestellt?“
„Angestellt, wie du es nennst, hat er mit der Explorer einen Sprung über sechs Lichtstunden in Nullzeit. Dafür haben wir das Schiff umgebaut. Ab sofort ist die überlichtschnelle Raumfahrt möglich.“ „Das ist ja fantastisch! Wann geht es los?“ „Da musst du dich noch etwas gedulden. Die Explorer ist als Experimentalschiff nicht wirklich fernflugtauglich, außerdem wäre darin kein Platz für eine ganze Mannschaft. Melde dich nach deinem Urlaub in Madagaskar. Dort hast du die Möglichkeit, zusammen mit Mandela an der Fertigstellung unseres ersten echten Fernraumschiffes mitzuwirken. Dann könnt ihr euch auch in Ruhe über Mandelas Herkunft unterhalten.“
Wieder einmal vermisste Nathan die Fähigkeit, bei einer Sprechverbindung ein Grinsen zu zeigen. „Also, wenn ich mir das so recht überlege, ausgeruht habe ich mich ja auf der Rückreise wochenlang. Bin ich eigentlich verpflichtet, meinen Urlaub jetzt anzutreten? Bei so einem Projekt wäre ich am liebsten sofort dabei.“ „Das lässt sich einrichten. Wenn du gleich anfangen willst, übertrage ich dir hiermit die Verantwortung für den Bereich Navigation. Außerhalb des Sonnensystems wird viel Neues auf euch zukommen. Es ist mir sehr recht, dich an dem Ort aufgehoben zu sehen. Dort bist du auch erreichbar, für den Fall, dass das Team auf Luna A noch Fragen hätte. In letzter Zeit haben unsere Spitzenkräfte die Angewohnheit, sich im Urlaub unauffindbar zu verstecken.“
Mit der letzten Bemerkung Nathans konnte Forster nicht viel anfangen. Aber er war ja auch schon in Gedanken so gut wie unterwegs nach Madagaskar.
Sein Gleiter befand sich im Landeanflug auf das Universitätsgelände der nationalen autonomen Universität von Mexiko, genannt UNAM. Jedes Mal, wenn Alejandro Flores die Gebäude sah, schlug sein Herz etwas schneller. Er liebte die Forschungsarbeit genauso wie seine Wirkungsstätte. Teile der altehrwürdigen Institution gehörten seit 2007 zum Weltkulturerbe. Hier blickte man auf eine lange Tradition zurück. Schließlich wurde die Universität bereits 1551 gegründet.
Flores war hier Dozent für angewandte Geologie. Aber den größten Teil seiner Zeit reiste er über den gesamten Erdball und betrieb Feldforschung. Er befasste sich überwiegend mit Meteoriteneinschlägen. Ständig war er auf der Suche nach noch unentdeckten Kratern. Er war der Erste, der Teile des Tungusta-Asteroiden, der 1908 über Sibirien niederging, gefunden hatte. Mehr als hundert Jahre war die Wissenschaft der Meinung, dass der Meteor in der Atmosphäre explodiert und restlos verglüht wäre. Erst als Flores die Methoden zur Auffindung dieser kosmischen Geschoße verfeinert hatte und dazu noch höchstempfindliche Geräte aus Gäa bereitstanden, änderten sich die Erkenntnisse. Nicht nur am Tungusta-Asteroiden wurde damit eine Vielzahl der bestehenden Theorien widerlegt.
Die Eingliederung Mexikos in Gäa war für die dort ansässige Wissenschaft ein großer Gewinn. Es gab mehr Mittel, bessere Ausrüstung und ein riesiges Staatsgebiet, in dem man forschen konnte ohne die halbe Zeit mit der Beschaffung von Genehmigungen zu vergeuden. Flores war mit seinen Fähigkeiten hier zur richtigen Zeit am richtigen Ort gelandet. Zwar war es noch immer sehr umständlich, Visa für Forschungen in den nördlichen Staaten, die sich 'freie Staaten' nannten, zu erhalten, aber dafür war das Gebiet auf der südlichen Halbkugel um so einfacher zu erreichen.
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