Birgit Ebbert
Begegnung in der Weihnachtsnacht
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Inhaltsverzeichnis
Titel Birgit Ebbert Begegnung in der Weihnachtsnacht Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Leseprobe aus "Die 50 besten Morde oder Frauen rächen anders"
Die Autorin
Impressum neobooks
Jetzt ist sie verrückt geworden, haben meine Freunde gesagt.
Aber vielleicht muss der Mensch sich von Zeit zu Zeit ver-rücken, um Mensch zu bleiben.
Ich habe mich auf einen Berg ver-rückt. In diese kleine Hütte unter hohen Bäumen, deren Größe mir zeigt, wie klein und unwichtig ich bin.
Träumerin, haben mich die Freunde genannt.
Ein Traum hat mich hierher gelockt.
Nein, es waren zwei Träume.
Vor Wochen sind sie mir beim Aufräumen in Kindheitstagebüchern begegnet.
Sie sprangen mir entgegen, froh über die Befreiung.
Zwanzig Jahre vergessen. Zwanzig Jahre eingesperrt.
Sätze können nicht alleine gehen. Sie benötigen menschliche Krücken.
Worten verhalf ich zum Leben.
Sie verwandelten sich in Schlüssel zur Gedächtniskommode.
Vergessene Träume quollen aus den übervollen Schubladen. Sammelten sich zu einer Einheit. Diskutierten mit Gegengedanken. Siegten. Führten mich hierher.
Ereignisse, von denen ich lange geträumt habe, umgibt immer ein geheimnisvoller Rauch.
Wie die düstere Moorluft verbirgt er die Zukunft.
Es ist, als wagte ich im letzten Moment nicht, den Schleier zu lüften.
Wer weiß denn, ob die Realität so traumhaft, fabelhaft, wunderbar ist wie das Leben im Traum.
Das Risiko, einen Traum wahr werden zu lassen ist viel größer als das einer Gebirgstour.
Viel leichter lassen sich die Umstände des Traumlebens herbeiführen.
Um wie viel wahrscheinlicher ist der Absturz, der nicht das Leben, sondern die Hoffnung nimmt.
Und was ist das Leben ohne eine Sehnsucht?
Meine Gedanken gehen ängstlich eigene Wege, weichen vom Pfad der Erfüllung ab, verscheuchen die Erinnerung, um die Sorge zu verbergen.
Doch heute gibt es kein Zurück. Dicke Schneeflocken versperren mir das Tor zur Gegenwart.
Eingeschlossen in diesem kleinen Haus bleiben mir nur die Gesellschaft der ungewissen Zukunft der nächsten Stunden, die Freundschaft vergangener Gedanken und - seineKraft. Obwohl er die Angst auslöst, verspricht er die Unterstützung vieler vergessener Jahre. Größeres Leid hat Spuren in seinem Fell, an seinen Armen und Beinen hinterlassen. Das Ohr, das früher ein goldener Knopf zierte, gibt es nicht mehr. Es wurde Opfer einer heute unbekannten Wut und Tat. Die Schneeflocken klopfen leise an das Fenster, sie begehren Einlass in ihre Todeskammer. Hat schon jemand über das Lemming-Phänomen dieser Kristalle nachgedacht? Wieder und wieder pochen sie an die Glasscheibe. Ließe ich sie ein, straften sie mich mit Kälte für einen Mord, den sie selbst angezettelt hätten. Also widerstehe ich ihrem Drängen, verweigere die Gastfreundschaft und sehe ihnen zu bei dem Kampf um ihr Leben. Die ersten werden die letzten sein. Auch hier. Doch die ersten sind nicht die, die oben liegen. Die Sieger im Kampf um die Spitze werden die ersten sein, die die Wärme den Freunden entreißt. Sie werden sich wundern über die Ungerechtigkeit. Da streiten sie sich um einen Aussichtsplatz, ohne zu ahnen, dass dieser Sitz der unsicherste ist. Dort beginnt die Schmelze. Nur kurze Zeit währt also die Freude, der Stolz, oben zu stehen, Sieger zu sein. Die Kälte jenseits der Glasscheibe breitet sich nun auch in mir aus. Ich sehe mich in der kleinen Hütte um und entdecke den Kamin, dessen Prasseln ich bisher nicht beachtet habe. Vielleicht ruft das Feuer nach Nahrung. Holz finde ich neben der Stelle genügend, doch keine leichte Speise, kein Zeitungspapier, keine kleinen Ästchen, die nicht sättigen, sondern nur unterhalten. So suche ich in meinem Rucksack nach überflüssigem Papier. Da hat mich die Vergangenheit mit einer List in ihr Netz gezogen. Die Tagebücher des Kindes finde ich in meinen Händen. Schon taucht die Erinnerung auf. Ich bin hier, um zwei Kindheitsträume zu erfüllen.
Geheim, in der krakeligen Schrift des achtjährigen Kindes warnt das Wort unbefugte Leser.
Ich schlage die nächste Seite auf.
Ein misstrauisches Kind war ich.
Hier steht: Wenn du weiterliest, spreche ich nie mehr mit dir.
Die größte Strafe, die ich kannte.
Wie oft hatte meine Mutter gedroht, wenn du jetzt nicht still bist, rede ich kein Wort mehr mit dir.
Ein einziges Mal musste sie den Worten Taten folgen lassen.
Eine kindische Ungezogenheit, die in der Erinnerung verblasst ist vor dem Angstbild jenes Tages, an dem jede Frage, jede Schmeichelei, jede Bitte mit einer Bewegung des Kopfes beantwortet wurde.
Dieses Gesicht, dessen Lippen sich nicht öffneten, erschien von dem Tag an, sobald die Mutter mahnte.
Kinder sind Abbilder ihrer Eltern, in Taten und Worten.
Ich war es die ganze Kindheit hindurch.
Erst als Jugendliche erlaubte ich der Elterntempelfassade zu brechen, um Blicke ins Heiligtum zu wagen.
Meine Augen lösen sich von den drohenden Worten.
Die Hand blättert die Seite um.
Da springen mir die gegenwartsbestimmenden Sätze der Vergangenheit noch einmal entgegen.
24.12.1973
Heute Abend bleibe ich wach. Mama hat gesagt, in der Weihnachtsnacht werden Puppen und Teddys lebendig.
25.12.1973
Ich bin eingeschlafen.
Eine leichte kleine Wölbung des Papiers spricht weiter. Von dem Schmerz der verpassten Gelegenheit, über die Enttäuschung des Versagens.
Achtlos überblättere ich die nächsten Seiten. Kümmere mich nicht um das Leben, das sie verbergen, finde die Eintragung des nächsten Jahres.
24.12.1974
Ich habe mir eine Taschenlampe gewünscht, damit ich bis Mitternacht lesen kann.
Das Kind wusste, warum diese Stunde von Bedeutung war, es konnte auf eine Erklärung verzichten.
25.12.1974
Scheiß-Schlaf.
Da hatte ich sicher gelernt, Wut in Sprache zu verwandeln.
Was den Mund so verließ, musste sich nicht mehr als Tränen den verschlungenen Weg nach außen bahnen.
An das nächste Jahr erinnere ich mich noch.
Es war das Jahr, in dem das Vertrauen in meine Eltern zum ersten Mal einen Riss bekam.
»Ihr weckt mich auch ganz bestimmt?«, hatte ich unter dem leuchtenden Christbaum gefragt.
»Das haben wir dir doch versprochen«, hatten sie einträchtig geantwortet.
Aber dann war ich am anderen Morgen wach geworden und hatte sie mit ihrer Waffe gezüchtigt: dem stummen, anklagenden Schweigen.
Im nächsten Jahr war ich klüger.
Es schien mir ganz einfach, mein Teddy sollte mich um Mitternacht wecken.
Wenn er es tat, konnte ich diese Nacht mit ihm erleben, wenn nicht, dann war die ganze Geschichte ein Lügenmärchen der Erwachsenen.
An diesen Weihnachtsmorgen habe ich noch oft gedacht.
Niemand hatte mich geweckt.
Jetzt kannte ich den Schlüssel zur Lüge.
Ich musste die Drohungen und Warnungen nur an der Wirklichkeit überprüfen.
Von diesem Tag an führte ich den Schwarzen Mann, den Osterhasen und Gott in Versuchung. Immer wieder, bis ich erkannte, dass Erwachsene sich mit Lügen umgaben, um die Macht zu behalten.
Ich lernte die großen Menschen zu unterscheiden.
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