»Versuchen wir es. Vielleicht bringt es etwas. Wir wissen so wenig über die Kelten, da ist jeder Hinweis wichtig.«
Es dunkelte, als sie auf Pauls Hof fuhren. Im Haus hatte sich nichts verändert, das sah er sofort. Also wussten die Ganoven scheinbar nichts von ihm.
»Kann ich mein altes Zimmer wieder haben?« Griet lächelte. Ihm wurde flau in der Magengegend.
»Sicher«, brachte er heraus. Die sanfte Abfuhr in Den Haag hatte er nicht vergessen.
»Gut. Dann mache ich mich jetzt mal frisch.«
»Ich fahre nach Teveren zum Griechen und hole etwas zu essen.«
*
Sie saßen am Tisch und schauten sich abwartend an. Griet und Paul an der einen sowie auf der anderen Seite der Kauz und eine junge Frau, die Paul vom Sehen kannte. Sie lebte abseits des Hügels, der die Senke des Ortes abschloss. Sie oder ihre Eltern besaßen das mit Abstand größte Anwesen im Dorf. Das Alter der Frau lag um die Zwanzig. Sie trug lange blonde Haare und sah ihn mit den blauesten Augen, die ihm je unterkamen, an. Die gleichen ungewöhnlichen Augen, wie bei dem Alten. Von beiden ging Charisma aus, bei dem sich die Härchen auf den Unterarmen aufstellten.
Der Mann schien, bei näherer Betrachtung, in mittleren Jahren.
Griet musterte ihn von der Seite. Ungewöhnlich, er sieht aus wie ein Neandertaler, dachte sie. Vielleicht eine Genveränderung? »Ich bin Griet«, sagte sie in ihrer unkomplizierten Art, »Paul ist euch bekannt ... denke ich doch.« Sie sah ihn an.
»Wir begegneten uns hier und da.« Er nickte zu der jungen Frau hinüber. »Mit Arget unterhielt ich mich einige Male.«
»Ich bin Kyra. Du wohnst im Haus an der Heide«, stellte sie fest.
»Genau. Ich bin vor einigen Jahren wieder ins Dorf gezogen.«
»Paul, du wolltest mich zu einer wichtigen Angelegenheit sprechen«, unterbrach Arget, als wenn er keine Zeit habe. Er steuerte direkt aufs Ziel. »Nachdem, was du mir erzähltest, bat ich Kyra, dem Gespräch beizuwohnen. Ich muss ehrlich sagen, aus deinem Kauderwelsch bin ich nicht schlau geworden. Sie weiß viel mehr als ich. Wenn jemand euch helfen kann, dann sie.« Er sprach mit seltsamem Akzent, den Griet nicht lokalisieren konnte. Nein! Vielmehr schien es so, als müsse er mühsam Worte formen. Doch es geschah so schnell und automatisch, dass es kaum auffiel.
»Ihr habt einen Keltenschatz entdeckt? Na ja, zumindest …, das hat Arget verstanden. Ich möchte euch helfen.« Kyra lächelte und ihre Augen musterten sie zwingend. »Über meine Qualifikation reden wir später.«
»Genau. Griet hat ein Keltengrab gefunden.« Paul sah vorwurfsvoll zu Arget, der ohne Absprache dieses Mädchen hinzuzog. »Es ist jedoch anders, als es im Moment scheint. Sie ist Anthropologin an der Universität in Leiden, also Den Haag und …, indem sie einer falschen Person vertraute, zwischen die Fronten dubioser Gestalten geraten.«
»Das weiß Kyra. Ich habe ihr erzählt, was du mir sagtest. Vertraue ihr, wie mir.« Argets zerklüftetes Gesicht wandte sich ihm zu. Er runzelte die fliehende Stirn.
»Ich dachte, du hast nichts verstanden«, entgegnete Paul.
Fasziniert betrachtete Griet, mittlerweile ungeniert, den Kauz. Sie konnte sich nicht losreißen. Eine Ahnung überkam sie. In Argets Augen erschien ein spöttisches Funkeln. Er rückte seine Figur in Positur, legte die überlangen Arme auf den Tisch und betonte dadurch den Buckel, den er hatte. »Ich denke, das Wichtigste ist die silberne Scheibe … oder eben ein Teller? …, die ihr gefunden habt. Darf ich sie sehen?«
»Gern.« Griet reichte ihm die silberne Platte über den Tisch. »Ich hoffe, dass diese Zeichen die Existenz einer keltischen Schrift belegen.«
Arget und Kyra tauschten einen erstaunten Blick, als sie den Gegenstand sahen. Vorsichtig nahm Arget das Relikt und vertiefte den Blick auf die Oberfläche. Nach einer schier endlosen Zeit, so erschien es Griet, stand er auf und wanderte hin und her. Von diesem Augenblick an interessierte Griet der Keltenfund nicht mehr. Sie sah nur noch Arget ... und der war kein Mensch. Aber was? Etwas, dass sie kannte, jedoch nicht festmachen konnte. Die sehr langen Arme schlenkerten am Körper und der Gang sah unbeholfen und wiegend aus. Mit einer Hand federte er die Schaukelbewegungen des Körpers auf dem Boden ab. Ihre Gedanken glitten zum Gesicht. Was sie für eine fliehende Stirn hielt, gab es nicht. Anstatt der Nase befanden sich zwei Löcher in seinem Gesicht. Ein breitflächiges Antlitz ohne sichtbares Kinn. Das Gesicht war nicht geschaffen, um Gefühle zu zeigen. Aber sie sah die tiefe Nachdenklichkeit und den Ernst seiner Gedanken. Er trug Jeans und ein Shirt, das über den Oberkörper spannte.
Arget hielt inne und reichte das Artefakt wortlos an Kyra. Sie nahm die Scheibe und legte sie auf den Tisch. Sie sah sie nicht an, sondern beobachtete ihn.
»Was wisst ihr von den Kelten?«, fragte Kyra und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Nicht so viel, wie wir es uns wünschten. Vieles liegt im Dunkeln, weil sie scheinbar keine eigene Schrift besaßen. Zumindest haben wir nichts in der Art gefunden. Wir sind auf die Berichte der Griechen und Römer angewiesen. Also aus zweiter Hand und dadurch subjektiv aus deren Betrachtungsweisen und Kultur.« Griet beugte sich vor und betrachtete Kyra aufmerksam. »Wir vermuten, dass sie, wie kein anderes Volk, die Naturwissenschaft – also nicht nur die Natur – mit ihrem Glauben verwoben.«
»Du vermutest. Nicht ich. Denk doch mal daran, welche Schwierigkeiten Kopernikus oder Galilei beim Beweis ihrer Thesen bekamen. Und mehr als fünfzehnhundert Jahre früher erfindest du ein Volk, das Naturwissenschaften kultiviert«, warf Paul bissig ein.
»Ja genau«, gab sie giftig zurück. »Wie konnten die Ägypter ihre Pyramiden bauen und die Griechen sowie die Chinesen schon um 500 vor Christus mathematische Formeln entwickeln? Ebenso unwahrscheinlich muss es für dich sein, dass alle gefundenen Externsteine der Kelten genau nach den Gestirnen ausgerichtet sind.«
»Ist ja gut«, erwiderte Paul zerknirscht und hob abwehrend die Hände. Er hatte sie noch nicht mal ins Bett bekommen und schon maßregelte sie ihn, wie einen Ehemann.
»Die Kelten dachten monistisch, sie sahen die Welt ihrer Zeit als einzelnes Ganzes. Die Anderwelt, die für sie existierte, musste eine – wie das Wort sagt – andere sein. Für uns: die außerhalb existierende Welt. Das Universum oder etwas, das wir noch nicht kennen. Für die Kelten war die Anderwelt ein Bestandteil ihrer Welt. Hier stellt sich die Frage, inwieweit und vor allen Dingen, mit welchen Mitteln der Kontakt in diese andere Ebene, sofern einer bestand, stattfand. Ja, ja Paul. Ich weiß, was du jetzt denkst. Mit Himmel und Hölle des christlichen Glaubens hat das nichts zu tun. Wie der Name schon sagt: Glaube, also nicht wissen. Die keltische Welt, vor allem die der Druiden, wandte Physik an. Belegbare Wissenschaft.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Paul. Kyra und Arget hörten sichtlich aufmerksam zu.
»Ich wollte dir deutlich machen, dass Kelten durchaus in der Lage waren, den physikalischen Bestandteil der Anderwelt zu erkennen. Also die Sterne und sogar das Sonnensystem mit den damals bekannten Planeten. Jetzt aber zu dem, was mir persönlich wichtig ist. Die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler, die sich mit meinem Fachgebiet beschäftigen, ist der Ansicht, dass die Geisteshaltung des Volkes, eine Entstehung einer eigenen Schrift verhinderte. Überlieferungen wurden von den Druiden gesammelt und weitergegeben. Wenn der Mensch verschied, starb er nicht. Er lebte später weiter. Damit will ich mich nicht abfinden. Es muss irgendetwas Schriftliches geben.«
»Die Kelten haben nie die Frage nach dem Übersinnlichem gestellt. Sie sahen ihr Leben als etwas Werdendes, also bestand kein Ansatz, die Vergangenheit schriftlich zu überliefern«, sagte Kyra.
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