»Hier.« Sie hielt ihm einen, in ein Tuch, gewickelten Gegenstand hin. »Guck dir das mal an. Ich werde mich eben umziehen. Ich habe keine Lust mehr, in deinen Klamotten rumzulaufen.« Sie trug immer noch Jeans und Shirt von ihm. Die Hose hatte sie umgeschlagen, denn, trotz ihrer Größe, passten die Sachen nicht.
Schon mehr als eine Woche war vergangen, seit er sie in der Heide aufgegabelt hatte. Es kam ihm wie gestern vor. Die Stichverletzung verheilte sehr gut. Sie hatte keine Bewegungseinschränkungen mehr, wie er feststellte.
Paul entfernte das Tuch von dem Päckchen und hielt eine ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser messende, matt glänzende, Scheibe in den Händen. Ein Meisterwerk von unschätzbarem Wert. Wenn er nicht vorher von Griet gehört hätte, dass der Gegenstand mindestens zweitausenddreihundert Jahre alt war, hätte er ihn für eine industrielle Fertigung der Gegenwart gehalten. Nicht ein Hammerschlag verunstaltete die Oberfläche. Makellos und deutlich reihten sich Zeichen aneinander. Ehrfürchtig drehte er die Scheibe in den Händen.
»Was sind das für Zeichen?«, rief er in Raum.
»Ich weiß es nicht.« Sie kam von unten hoch und kämmte das schulterlange Haar. »Wir haben schon darüber gesprochen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Kelten keine Schrift besaßen. Bisher gibt es zumindest nichts, was darauf schließen ließe. Sie benutzten hauptsächlich die lateinische Sprache, aber auch Griechisch. Es scheint fast unwahrscheinlich, dass sie eine eigene Schreibweise besaßen. Das passte nicht in ihre Lebensphilosophie. Sie glaubten, später, in einer anderen Person, weiterzuleben. Die wichtigen Dinge wurden von Druiden bewahrt und mündlich in den Generationen weitergegeben. Hinzu kam die sogenannte Anderwelt. Wie wir heute vermuten, der physikalische Bereich, also die Welt mit all ihren Planeten und Sonnensystemen sowie weiteren Geheimnissen. Ich verliere mich wieder …, wenn ich einmal anfange, höre ich nicht mehr auf«, sie hob entschuldigend die Schultern und grinste leicht.
»Mach nur weiter.« Er drehte die Platte in den Händen. »Ich finde es sehr interessant. Wer bekommt schon die Möglichkeit, von einer solch reizenden Dozentin, eine Vorlesung zu erhalten.«
»Mach mir später keinen Vorwurf. Ich will einfach nicht glauben, dass die Kelten keine eigene Schrift besaßen. Das und nichts anderes möchte ich beweisen. Ich bin wie besessen davon.« Sie umfasste seine Hände, die, die Scheibe hielten. Die grauen Augen blitzten und hypnotisierten ihn. »Dieses Teil hier wird mich weiterbringen. Das spüre ich genau. Immer wenn ich es in die Hände nehme, habe ich das Gefühl, mich zu erinnern. Ja, und das ist blöd, ich denke, ich habe die Scheibe in einem anderen Leben selbst gemacht. Nein, nein! Ich bin nicht verrückt. Ich sage ja, dass ich es selbst nicht glaube. Jedoch ist ein Teil der Keltenphilosophie die Wiedergeburt.«
»Es ist auch schwierig, zu glauben, dass du eine wiedergeborene Keltin bist. Du siehst so frisch aus.« Paul lächelte verhalten.
»Was höre ich da? Du baggerst mich an?« Grübchen zogen in ihre Mundwinkel. »Das ist verlockend. Aber im Moment ist mir nicht danach.«
»Dann versuche ich es später noch einmal.« Er nahm die Abfuhr gelassen. In den wenigen Tagen hatten sie einen Weg gefunden, ungezwungen miteinander umzugehen. »Was geschieht denn jetzt mit den Sachen, die wir aus dem Grab geholt haben?«
Im Verlaufe der Woche, kurz nach dem Besuch des Kriminalpolizisten, schlichen sie zur Heide. Griet wollte bergen, was ging, bevor hier Kommandos anrückten und das Gebiet sperrten. Sie legten das Grab vorsichtig frei, vermaßen es und schossen Hunderte von Fotos. Unglaublich, was sie zutage brachten. Kunstvoll gefertigte Schmuckstücke, irdene Töpfe, ein Schwert und römische Münzen, die fünfundsiebzig bis siebzig vor Christus datierten. Natürlich stammte auch die Silberscheibe aus dem Grab. Sie hatte Griet vorher mitgehen lassen.
In der Regel wurden solchen Gräbern nicht so üppige Gegenstände beigegeben. Neben dem normalen keramischen Urnengefäß, ein Schmuckstück. Die Person, die hier beerdigt wurde, schien etwas Besonderes.
Die Grabungen strengten an. Wenn sie nicht immer wieder eine kleine Scherbe oder ein Schmuckstück gefunden hätten, wäre es die langweiligste Arbeit gewesen, die Paul je verrichtet hatte. Griet gab nur Anweisungen und schoss Fotos. Dazu fertigte sie die Notizen, die, die jeweilige Fundstelle millimetergenau belegten. Die Wunde behinderte sie sehr. Die Artefakte lagerten nun verpackt in Pauls Keller.
»Ich muss zur Uni. Dort werde ich mit meinem Team das weitere Vorgehen besprechen.«
»Und Huub?«
»Das ist ein Problem, da hast du recht.«
»Ich muss mal für kleine Jungs.« Er stand auf und ging zur Toilette. Gedankenlos nahm er die silberne Platte mit. Mitten im Geschäft drang gewaltiger Krach ins Bad. Die erste Reaktion, nach draußen zu stürzen, unterdrückte er. Vorsichtig lugte er durch die Tür in den Raum. Drei Männer. Einer hielt Griet an den Armen und redete auf sie ein. Holländisch, aber so schnell, dass er es nicht verstand. Sie antwortete ebenso temporeich und wirkte wütend, jedoch nicht ängstlich. Die Person, links von ihr, ohrfeigte sie.
»Raus mit der Sprache. Wo ist die Silberscheibe? Wir bekommen es sowie aus dir heraus.« Ein Deutscher. Er schlug wieder zu.
»Ich habe sie nicht. Huub hat sie. Er hat sie mir weggenommen.«
Der Schläger sah zu Huub hinüber. Der schüttelte den Kopf.
»Nee, ik heb hem niet. Zij is slim en wil ons tegen elkaar uitspelen (Nein, ich habe sie nicht. Sie ist clever und will uns gegeneinander ausspielen).« Er ging auf sie zu und trat gegen das Schienbein.
Griet fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und rutschte aus dem Griff, der sie hielt.
Paul nutzte den Augenblick und fegte aus dem Badezimmer. Er trat dem Deutschen mit voller Wucht gegen die Wirbelsäule, der daraufhin mit einem Aufschrei zu Boden ging. Mit der gleichen Bewegung schlug er Huub die Fäuste in den Nacken. Den Dritten hielt Griet im Schwitzkasten. Paul trat ihm seitlich gegen Kopf.
»Los komm, wir verschwinden.« Er packte sie am Arm.
»Hast du die Scheibe?«
»Nein. Sie ist im Bad.«
Griet stürmte ins Bad und dann weiter die Treppe hinunter. Paul trat dem Deutschen, der mit den Beinen strampelte, noch einmal vor den Kopf und verschwand ebenfalls.
»Wohin?«, fragte Griet, die hinter dem Steuer saß. Sie fuhr einfach los.
»Zu mir nach Hause. Ich denke nicht, dass sie uns dort vermuten. Sie wissen hoffentlich nicht, wer ich bin.«
»Ich habe nichts bemerkt. Sonst knarrt die Treppe, du hast es selbst gehört. Ich verstehe nicht, wie sie uns so überraschen konnten.«
Sie befuhren die Autobahn nach Rotterdam und über Antwerpen und Heerlen.
»Was sollte das jetzt?«, fragte Paul, nach einiger Zeit auf der Autobahn. »Tut dein Gesicht weh? Oder dein Schienbein? Die haben ja ordentlich zugelangt.«
»Es geht. Die Stichverletzung schmerzt schlimmer.«
»Soll ich fahren?«
»Nein. Es verschafft mir Ablenkung. Die wollten die Scheibe. Ich weiß nicht, warum sie mit solcher Gewalt agieren. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man einiges dafür. Jedoch nicht so viel, als dass sich dieser Einsatz lohnte. Da steckt noch etwas anderes dahinter. Übrigens. Vielen Dank für deine Hilfe.«
»Habe ich gern getan. Es wurde Zeit, dass ich aus meinem Loch herauskam. Ich hatte ganz ordentlich Bammel. Aber es funktionierte. Ich wusste nicht, dass ich so viel drauf habe.« Er grinste stolz und rieb die Fäuste. »Was meinst du damit, dass da noch etwas anderes dahinter steckt?«
»Nur ein Gefühl. Ich muss darüber nachdenken. Da ist etwas, das ich nicht packen kann.«
»Ich spreche mit einem Bekannten, der bei uns im Dorf lebt. Ein seltsamer Kauz, jedoch in Geschichte ungemein beschlagen. Wenn er erzählt, habe ich den Eindruck, er sei selbst dabei gewesen.«
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