Paul arbeitete bis zum Beginn seiner Krankheit als Elektronikingenieur in Düsseldorf. Die Ehe ging nach acht Jahren zu Ende. Gott sei Dank hatte er keine Kinder aus der Verbindung. Vor fünf Jahren erbte er sein Elternhaus und hatte seitdem keine finanziellen Sorgen mehr. Den alten Bauernhof, in dem er die Kindheit und Jugend verbrachte, betrieb er als Hobby. Mit Liebe zum Detail ließ er ihn modernisieren und restaurieren. Seit drei Jahren lebte er, nach zehnjähriger Abwesenheit, wieder im Dorf.
Es fiel ihm schwer, Fuß zu fassen. Die alten Kontakte waren abgerissen und er hatte keine Lust, sie zu erneuern. So lebte er zurückgezogen und genoss die morgendlichen Spaziergänge. Natürlich traf er hier und da, den ein oder anderen. Doch mehr als Belanglosigkeiten tauschte er nicht aus.
Mit der agilen Holländerin kam Leben ins Haus. Am ersten Tag ihrer Bekanntschaft, also an dem Tag, wo sie verletzt wurde, bettete er sie am frühen Abend fürsorglich in einen Liegestuhl auf der Terrasse. Sie stießen mit Stubbis an und prosteten einander zu.
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, begann sie mit dem bezaubernden Akzent und wandte ihm das interessante Gesicht zu.
Paul nickte lediglich bestätigend.
»Du wirst mich für verrückt halten, aber aufgrund dieses jungen Kelten, von dem du jetzt hören wirst, wurde ich Anthropologin.« Sie schloss die Augen für einen Moment und musterte ihn geheimnisvoll. »Also dann … aber zuvor noch ein Satz von Caesar.«
*
drei
Griet erzählt:
»Den Druiden obliegen die Angelegenheiten des Kultus, sie richten die öffentlichen und privaten Opfer aus und interpretieren die religiösen Vorschriften. Eine große Zahl von jungen Männern sammelt sich bei ihnen zum Unterricht, und sie stehen bei den Galliern in großen Ehren.«
(Caesar: De bello gallico)«
Kendric der sechzehnjährige junge Mann wurde, seit dem zweiten Lebensjahr, von Labhruinn, dem Druiden, darauf vorbereitet, ein mächtiger Zauberer des Volkes zu werden, dem er angehörte. Labhruinn, ein finsterer Mann, flößte ihm mehr Angst als Respekt ein. Der Druide führte die Schule mit harter Hand. Die alt überlieferten Bräuche und Riten wurden getreu der Worte und Bewegungen gelebt und auswendig gelernt. Abweichungen und Interpretationen gehörten nicht zum Lehrplan. Labhruinn predigte, dass die Seelen der Menschen und die Welt unvergänglich seien. Durch Feuer und Wasser erneure sich alles. Die Menschen starben nicht, sondern lebten in ihren Verwandten weiter. Deshalb brauche auch niemand Angst zu haben, ehrenvoll im Kampf zu sterben. Er wurde wiedergeboren.
Kendric dachte eigene Gedanken. Hatte er doch häufiger erlebt, dass Labhruinn den Stamm, nicht selten mit einem kleinen Trick, auf seine Seite brachte. Die Menschen lebten in Angst vor ihm. Unbestreitbar stand Labhruinn mit den Göttern in Verbindung. Weshalb gebrauchte er dann Scharlatanerie? Er besaß ein Pulver, welches Nebel erzeugte, aus dem er, bei großen Festen, mit erhobenen Händen heraustrat. Der Stamm und auch alle anderen Menschen liebten ihn nicht. Der Druide lebte als notwendiges, aber geachtetes Übel unter ihnen.
Kendric gehörte mit der hochgewachsenen Gestalt zu den Größten des Stammes. Schlank wie eine Tanne, und trotz des jungen Alters mit tanzenden Muskeln auf dem Körper, wirkte er mehr wie ein Krieger, als ein angehender Druide. Aus dem ansprechenden Gesicht sahen kühle, auffallend blaue Augen auf die anderen nieder. Häufig spielte ein Lächeln um die Lippen, dessen er sich nicht bewusst war.
Heute ging er in den Wald. Nur zu diesem Vollmond im Jahr bestand die Möglichkeit, eine bestimmte Pflanze zu sammeln. Sie bewirkte einen Zauber. Zu Heffyn, dem Eichenfest, wurde daraus ein Trank zubereitet. Nur wenigen Menschen gestattete der Druide, diese Kräuter zu ernten. Sie wurden einem Ritual unterzogen, das sie reinigte. Er hatte davon jetzt noch die Striemen auf dem Rücken. Labhruinn schlug die bösen Gedanken mit Weidenruten aus ihm heraus. Kendric verschwieg mittlerweile immer häufiger, wenn er selbstständig dachte, auch auf die Gefahr hin, auf immer verdammt zu sein.
Doch Labhruinn ließ immer Vorsicht walten und reinigte auf Verdacht.
Falls Kendric heute die Zauberpflanze finden sollte, würde sie so oder so keine Wirkung haben. Als er am frühen Abend losging und nicht wie vorgeschrieben die Augen senkte, begegnete ihm Bronwyn, die fünfzehnjährige Tochter des Stammesführers. Sie warf ihm einen kecken Blick zu, der ihm bis in Fußspitzen fuhr. Der Verstand, eine besonders große Sünde, und sein Körper gerieten in Aufruhr. Von diesem Zeitpunkt an dachte er an nichts anderes mehr. Bronwyn stand vor seinem inneren Auge. Die Grübchen ihrer Mundwinkel lockten versprechend. Ihre schlanken Beine zeichneten sich unter dem Gewand deutlich ab.
Das Chaos in seinem Kopf lenkte ihn ab. Mit Macht versuchte er, die unreinen Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Nicht auszudenken, wenn der Energiefluss der Eiche durch seine fehlende Disziplin nicht auf die Menschen überging. Er störte das Gleichgewicht. Labhruinn würde ihn schlagen und unter Umständen verstoßen. Der Baum des Lebens hielt die Welt zusammen.
Er ließ sich auf dem Boden nieder und sammelte die Gedanken, wie er es gelernt hatte. Alles glitt von ihm ab. Sein Inneres wurde leer. Gott Cernunnos erschien ihm. Das mächtige Geweih wogte über dem Hirschkopf. Schemenhaft und schwerelos glitt das mächtige Tier durch den Wald. Die Konturen strahlten in hellem Licht. Kendric versank in den Augen des Traumtieres und folgte den Bildern, die sich einstellten. Vor ihm lag eine andere, unbekannte Welt. Die Anderwelt. Er machte den kurzen Schritt hinein, dorthin wo die mächtigen Geister über die Menschen wachten. Undurchdringliche Nebelwolken empfingen ihn. Ein Lichtstrahl drang aus der dunstigen Masse und ließ die Sterne zum Greifen nah erscheinen. Eine Spirale geriet in Drehbewegung und zog ihn hinein. Plötzlich stand er inmitten der Rotation der Planeten und erkannte ihre Umlaufbahnen. Die Zusammenhänge des Lebens offenbarten sich ihm. Alles gehörte zusammen. Die Bewegung der Planeten untereinander hielt die Welt zusammen. Sie stellte Gleichgewicht her. Die Sonne gab das Licht und die Kraft. Doch weit hinten, zwischen den vielen, vielen Sternen, lauerte eine weitere nebelartige Wolke, aus der, zwar undeutlich und verschwommen, ein Gesicht lauerte. Dort lockte das Böse.
»Kendric«, schreckte ihn die mächtige Stimme wie ein Donnerschlag aus der Betrachtung. Er erschrak nicht. Hier geschah ihm nichts. »Du hast den Schritt in die Anderwelt getan und damit Mut bewiesen, den andere Druiden bisher nicht aufbrachten.«
»Ich bin kein Druide. Ich muss noch viel lernen. Labhruinn sagte, ich werde es nie schaffen.«
»Labhruinn ist ein guter Mann und verlangt von seinen Eleven alles, was sie zu geben in der Lage sind. Dadurch stehen ihm alle Wege offen, die Geheimnisse für den Stamm zu nutzen und zum Besten anzuwenden.« Gott Cernunnos stand in Menschengestalt vor ihm. Jedoch mit dem riesigen Geweih versehen, das er vorhin schon als Hirsch trug. Gewaltige Kraft strömte aus den Augen des göttlichen Wesens auf ihn hinüber. Die Veränderung kam schneller, als sein Denkprozess ablief. Nicht körperlich. Sie geschah im Inneren. Bevor er den Gedanken zu Ende führte, saß er wieder auf dem Waldboden. Oder saß er dort immer noch? Er konnte es nicht sagen.
Zumindest wusste er nun, dass Labhruinn unrecht hatte. Die bösen Gedanken schadeten nicht. Das neue Wissen gab ihm Freiheit. Erleichtert erhob er sich und setzte den Weg fort. Die Stimmen des Waldes klangen anders als vorhin. Sie schwangen im Inneren und zeugten vom Gleichgewicht mit der Natur. Nach wenigen Minuten sah er die geheimnisvolle Pflanze, die für das Fest Heffyn benötigt wurde. Er sprach die überlieferten, komplizierten Worte und schnitt vorsichtig einige Zweige mit der heiligen Sichel ab. Sie wurde nur benutzt, um die heilige Pflanze zu schneiden.
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