Der Fatimidenanführer schien durch die Hölle zu gehen. Der Gedanke, selbst die eigenen Enkel um Nachsicht bitten zu müssen, blieb für ihn offensichtlich unerträglich. Sobald die Anwesenden saßen, berichtete er mit leiser Stimme von dem Vorgefallenen. Als Nurim geendet hatte, wanderten seine Augen fast hilfesuchend umher. Ernste Gesichter musterten den Ältesten, aber jedwede Zuwendung unterblieb.
Eine Entschuldigung fehlte noch!
Nachdem er sie ausgesprochen hatte, lief niemand auf den Kopf. Zwar gaben sämtliche Anwesenden einzeln kurze Antworten dazu ab, aber eine Verweigerung blieb aus. Als auch der Letzte zugestimmt hatte, lasteten sämtliche Blicke auf mir. Ich nickte, stand auf und reichte Nurim die Hand. Dazu nahm ich Raimund in den Arm. Alle jubelten. Unvermittelt stürzten sie auf uns los, als sei eine große Last von ihnen gefallen. Ich musste an die Worte meiner Großmutter denken …
Ein großes Knäuel von Menschen umarmte sich und hielt einander fest. Ich fühlte mich wie bei unserem ersten Treffen.
Raimund hatte Erfolg gehabt! Die Familie war wieder vereint!
In den Trubel hinein klopfte es. Nasim öffnete. Ein Diener berichtete, dass der Assassine zu reden bereit wäre. Nurim löste sich aus dem Pulk und blickte fragend zu seinem Schwiegersohn hinüber. Der bedeutete ihm, mitkommen zu wollen. Als sie zur Tür gingen, lief ich hinterher. Rüde wurde mir verdeutlicht, dass mein Verbleib hier zu sein hätte. Das Kommende wäre kaum für alle Augen bestimmt, insbesondere nicht für die Angehörigen!
Erstaunlich, wie schnell die beiden Verwandten wieder zusammengefunden hatten, als sei nie etwas passiert!
Familienbande …
Ich beließ es dabei und ging hinaus. Wenn man mir schon die Teilnahme an der Befragung verwehrte, dann aber doch wohl nicht die Kontrolle der Soldaten!
Die Bogenschützen übten nach wie vor, bei den Kämpfern wurde gerade ein weiterer Verwundeter abtransportiert, und die Flüche der Reiter über die schweren christlichen Rüstungen hallten nach wie vor laut über den Platz.
Arabicus saß mit einigen Alten abseits und erklärte auf einem ausgebreiteten Ziegenfell Truppenbewegungen. Raimunds Freund winkte herüber, hatte aber keine Zeit für ein Gespräch. Leise setzte ich mich auf einen verwitterten Stein und sah zu.
Die Ausbildung war hervorragend. Malik al Charim würde Matlahat nicht so einfach überrumpeln können, selbst wenn er weitaus mehr Soldaten zur Verfügung hatte als wir. Das jedoch genau blieb unser größtes Problem!
Mir kam ein Gedanke.
Die schnell zusammen gerufenen Ausbilder zeigten bereits bei den ersten Worten völliges Unverständnis. Eisern blieb ich bei meiner Meinung und setzte die passenden Befehle rigoros durch. Geraume Zeit später erst hatten sich die, nach denen geschickt worden war, versammelt. Danach warfen die niederen Anführer mannigfaltige Flüche herüber. Arabicus unterbrach seine Unterweisung und hörte ihrem Schimpfen fassungslos zu. Er konnte es nicht glauben. Ich hatte sämtliche Frauen der Festung zusammenrufen lassen, um sie ab sofort wie die Männer an jeglichen Waffen ausbilden zu lassen!
Dies war mein Todesurteil!
Ein islamisches Land, in dem ein Christ Frauen zu Kämpfern machte!
Die Kriegskunst war von jeher den stolzen Männern vorbehalten. Wie konnte der Enkel des Anführers es wagen, jegliche Traditionen zu brechen?
Auch unter den Soldaten brach tumultartiger Lärm los, als sie hörten, was ich den Frauen laut erklärte. Sämtliche Krieger schwangen ihre Waffen und standen kurz davor, mich anzugreifen. Wütend schlugen die Einheiten mit allem, was Krach machte, aufeinander und schrien sich die Kehlen heiser. Arabicus brüllte über den Platz, aber zum ersten Mal schien er kaum Wirkung zu erzielen.
Die Tumulte ignorierend, stieg ich die Treppe zum Haupthaus hinauf. Links vor mir standen die Frauen, rechts davon die tobenden Gruppen der Soldaten. Ich versuchte erst gar nicht, sie zur Ruhe bringen, sondern hob allein den Arm und wartete. Der Lärm ebbte nur langsam ab.
»Männer und Frauen von Matlahat, seid ruhig! Die folgenden Worte fallen nur einmal! Hier steht nicht irgendein Christ, sondern jemand aus Eurer Mitte. Lange verschollen, ist er nun wieder da. Ich trage so wenig Schuld daran wie Ihr, dass mein bisheriges Leben woanders stattfand. Die darauf fußende unterschiedliche Ausbildung hilft jetzt jedoch den Bewohnern unseres Tals. Nutzen wir diesen Vorteil gemeinsam für den Sieg! Jammert also nicht über Änderungen oder darüber, wie schwer Ihr es unter mir habt. Dies rettet sowohl unser aller Leben als auch Matlahat!
Das Volk der Fatimiden besteht nur noch aus Wenigen, deshalb tragen unsere Frauen ab sofort ebenfalls Waffen! Sie werden das Bergtal schützen, während die Soldaten kämpfen.
Ihr habt die Wahl: Sämtliche Männer ziehen gegen den Feind und gewinnen, während die Heimat durch die Frauen gesichert ist. Oder aber unsere Krieger teilen sich. Die eine Hälfte bleibt in Matlahat, und die andere geht unter, weil sie allein zu schwach ist. Wir kämpfen und siegen alle zusammen! Ansonsten sehen die Frauen und der Christ zu, wie die Männer erst die Schlacht und danach die Heimat verlieren. Wollen wir von Malik al Charim vernichtet werden, nur weil eiserner Stolz jede Neuerung verhindert?
Entscheidet Euch – jetzt! Weiterhin die alten Regeln oder lieber den Sieg?«
Nach meinen Worten herrschte Stille. Ich hatte jeglichen Grundsatz in seinen Festen erschüttert. Die Männer mussten sich erst fassen. Arabicus riss die Arme hoch.
»Den Sieg!«
Jubel brandete auf. Matlahats Bewohner wiederholten immer wieder den kurzen Aufschrei und lärmten mit den Waffen. Bogen schlugen auf Köcher, Schwerter auf Schilde.
Die Menge hatte eine eindeutige Entscheidung getroffen!
Ich teilte die Frauen in Gruppen ein und wies sie den Ausbildern zu, während der frühere Mönch zusätzliche Führer für die Krieger bestimmte.
Als jeder seinen Platz gefunden hatte und die Übungen weitergingen, ließ ich mich nieder und beobachtete die Frauen. Auf einmal setzten sich links und rechts zwei Schatten dazu – Raimund und Nurim!
»Nicht schlecht, Falko. Ein Christ bringt die Moslems dazu, umzudenken! Ihr werdet sie führen, und alle werden Euch vertrauen! Das bedeutet den Sieg!«
Mein Vater ließ unüberhörbare Wertschätzung bei diesen Worten mitschwingen. Von der anderen Seite kam die Stimme des alten Fatimiden.
»Was macht Ihr mit unseren Kriegern? Sie fressen Euch buchstäblich aus der Hand!«
Ein breites Lächeln war in drei Gesichtern zu sehen. Es herrschte eine Stimmung wie bei unserer ersten Begegnung. Jegliche Probleme waren endgültig beseitigt.
»Trotzdem spielt Ihr mit dem Feuer, wenn die Frauen auf die gleiche Stufe gestellt werden wie die Männer!«
»Unter den herrschenden Bedingungen bestehen für mich keinerlei Unterschiede zwischen denen, die in der Lage sind, eine Waffe zu führen. Bei einer Niederlage gehen alle Menschen in Matlahat unter – ungeachtet des Geschlechts!
Wenn wir gewinnen wollen, wird jeder Arm benötigt, der helfen kann!
Die Fatimiden sind anders als ihre Gegner, also verhalten sie sich auch im Kampf entsprechend. Durch die Ausbildung der Frauen ergibt sich ein weiterer Vorteil. Sollte Matlahat überfallen werden, wird die Verwunderung der Angreifer übergroß sein!«
Nurim grinste verschmitzt bei meinen Worten. Fast vergnügt sahen wir dem Treiben auf dem Platz zu.
Sämtliche Frauen sollten zuerst an den Bögen ausgebildet werden, dann an den Langbögen, schließlich an den anderen Waffen. Vielleicht reichte die Zeit noch für eine Vertiefung der Schulungen. Die Krieger wirkten nach wie vor konsterniert, während sie ihre Übungen fortsetzten. Es unterliefen ihnen plötzlich dermaßen viele Fehler, dass Arabicus eingriff. Sorgte neue Konkurrenz etwa für Unsicherheit?
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