„Vielleicht hat es hier bissige Hunde. Dann wird’s gefährlich. Wir sollten besser wieder umkehren.“ Pauls Warnung stiess leider jedoch auf taube Ohren.
„Nein, euer Vater hat recht.“ Christina gab sich den Anschein der Sicherheit. Auf der Karte führte der Weg eindeutig weiter, da stand nichts von privatem Gelände. Ausserdem würde es unmöglich sein, ihre Söhne noch einmal zu einer Wanderung zu bewegen und sie müsste die Hoffnung auf ein gemeinschaftliches Naturerlebnis endgültig begraben, wenn sie jetzt umkehrten. Sie zog also beherzt am Griff des Törchens und ging hindurch.
Wie auf Bestellung hörte sie ein Kläffen, das vom etwas entfernt stehenden Haus zu hören war. Was, wenn Paul doch recht hatte? Sie blickte nervös durch das Geäst und sah zwei undefinierbare, aber unbestreitbar grosse Tiere, die aufmerksam in ihre Richtung blicken. Christina erinnerte sich an alle Touristenunfälle, von denen sie in letzter Zeit gelesen hatte, von wildgewordenen Mutterkühen und rabiaten Hütehunden oder Bulldoggen, die sich in nackte Wandererbeine verbissen hatten. Wo wohl in Poolewe das nächste Spital war? Ihre Nackenhärchen kräuselten sich ein bisschen bei dem andauernden Gekläffe. Glücklicherweise war die ganze Truppe aber schon durch das Tor hindurch, und man machte, dass man zügig weiterkam.
Der Pfad war jetzt nicht mehr geteert und stieg steiler an. Das Ganze begann eher der Vorstellung von einer Wanderung zu gleichen. Wie wenn sie übereingekommen wären, ihren vergeblichen Protest auf Eis zu legen, hatten sich Paul und Stefan jetzt ihren Eltern angeschlossen, und man wanderte plaudernd und in Frieden dem vorgegebenen Weg entlang, bewunderte die tolle Aussicht auf weitentfernte Hügelzüge, probierte das torfige Wasser aus dem Bach in der Heide und freute sich an der ganzen Blumenpracht am Wegrand. Fuchsien, Sommerflieder, Farne und roter Fingerhut wucherten in unglaublicher Menge, als wollten sie das harsche Klima Lügen strafen.
„Wow, das war cool!“ Soviel Begeisterung in der Stimme hatte Christina schon seit langem nicht mehr von ihrem Sohn gehört. Paul war soeben prustend und schnaubend aus dem kalten Wasser aufgetaucht und mit den nackten Füssen ans moorige Ufer geklettert. „Los Stefan, machen wir ein Wettschwimmen – bis dort zur Halbinsel!“ Ohne auf die Antwort seines kleineren Bruders zu warten, warf er sich wieder ins Wasser und startete mit kräftigen Schwimmzügen. Stefan folgte ihm und schon bald entfernten sich die beiden Köpfe im Wasser vom Ufer.
„Schaffen die das bis da rüber?“ Christina machte sich schon wieder Sorgen. Mark lachte. „Kein Problem, wenn ihnen nicht vorher die Zehen abfrieren. Kommst du auch ins Wasser? Na los, sei keine Spielverderberin!“
Obwohl ursprünglich Christina die Idee mit dem Baden gehabt hatte, blickte sie jetzt missmutig der Herausforderung entgegen. Die Sonne schien zwar warm auf ihren Körper herab und liess das Schwimmen verlockend erscheinen, aber der Loch war tief und das dunkelblaue Wasser sah doch ausserordentlich frisch aus. Verzagt streckte sie eine Zehe ins Wasser. Brrr! Vierzehn Grad hatte Stefan gesagt. Sehnsüchtig dachte sie an das warme Mittelmeer. Aber es half nichts – da musste sie jetzt durch. Sie schloss todesmutig die Augen, zählte bis Drei und warf sich in die kalten Fluten.
Mittwochnachmittag
McKenzie hatte sehr schlechte Laune. Die Special Unit, die überraschend schnell in Poolewe eingetroffen war – hatten die den Helikopter gechartert? – hatte ihr und ihrem Team den Fall aus der Hand genommen. Zwei Anzugträger, die in einer Limousine mit getönten Scheiben vor dem Cottage vorgefahren kamen, hatten mit gerunzelter Stirn auf die Absperrbänder geblickt und dann auf sie – die gerade mit dem Pressefritzen sprach. McKenzie konstatierte nebenbei, dass sie keinen Spürhund mitgebracht hatten.
„Wir übernehmen jetzt hier das Zepter“, sagte der Grössere, ein blonder hagerer Mann mit schütterem Backenbärtchen. „Detective Chief Inspector Huckley und Detective Sergeant Mull, National Intelligence Bureau.” Schnell flackerten zwei IDs auf – unmöglich, die so schnell zu lesen! – dann wieder streng: „Und Sie sind?” Die Frage war an den Journalisten gerichtet, aber McKenzie war schneller. Sie stellte sich vor und fügte, mit, wie sie hoffte, grosser Gelassenheit hinzu: „Darf ich Ihnen Stephen Light von den Gairloch Weekly News vorstellen. Ich habe ihm soeben erklärt…“
„Unwichtig. Setzen Sie uns bitte ins Bild. Mr. Light entschuldigt uns. Er kann sich an die Pressestelle in Inverness richten, die gibt ihm alle gewünschten Informationen, die wir freigeben können. – Was ist hier passiert?“ Damit nahm Huckley McKenzie am Arm und führte sie ohne viel Federlesens hinter das Haus, wo keine neugierigen Journalistenohren zuhören konnten.
McKenzie fühlte sich wie bei ihrem ersten Examen auf der Polizeischule. Trotzdem gab sie sich nicht so schnell geschlagen. „Können Sie mir Ihren Ausweis noch einmal zeigen – das ging vorhin zu schnell für mich.“ Huckley zuckte sichtlich zusammen, griff sich dann aber ins Jackett und produzierte seinen Ausweis ein zweites Mal, sein Adlatus tat es ihm gleich.
Nachdem diese Formalität erledigt war, bemühte sich der Chefinspektor sichtlich, seine ins Wanken geratene Autorität sofort wiederherzustellen und McKenzie blieb nichts anderes übrig, als gehorsam ihre Ankunft im Cottage und die Massnahmen, die sie bisher ergriffen hatte, zu schildern.
„Die Leiche ist also noch hier? Kein Arzt, keine SpuSi? Was ist mit der Zeugin?“
McKenzie musste zugeben, dass die Zeugin nicht mehr vor Ort war. Diese Information produzierte ein verächtliches Schnauben vonseiten des Sergeanten. Offenbar hielt er nicht viel von den ermittlungstechnischen Fähigkeiten der örtlichen schottischen Polizeibehörden. Huckley blieb eisig höflich. „Was können Sie mir zum Opfer sagen? Irgendwelche Feinde? Bekannte Fehden im Umfeld? Eine frustrierte Exfrau oder eine verschmähte Geliebte im Hintergrund?“
McKenzie richtete sich zu ihren vollen 1 Meter 60 auf. Der Mann wurde ihr zunehmend unsympathisch. So entgegnete sie möglichst hoheitsvoll: „Wir haben mit den Ermittlungen erst begonnen. Soweit bekannt, hat das Opfer allein gelebt und keine näheren Beziehungen gepflegt. Aber wir werden selbstverständlich…“
„Vielen Dank, Inspektor“, unterbrach Huckley sie rüde. „Aber wie schon gesagt, ab jetzt übernehmen wir. Wenn wir Ihre Hilfe brauchen, melden wir uns. Sie sind ja sicher im Büro zu erreichen.“
Das war’s. McKenzie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nicht so gedemütigt gefühlt. Huckley und Mull forderten von ihr den Schlüssel zum Cottage ein, liessen sie dann stehen und traten ein. Mull schloss demonstrativ hinter sich die Tür.
Nicht mal den Arzt hatte sie gesehen. Keine Chance zu erfahren, was der zu diesem Todesfall sagen würde. Und wie kam sie jetzt zurück nach Gairloch?
Vielleicht sollte sie zuerst die Umgebung erkunden. Der Schotterweg führte am Haus vorbei Richtung Osten. McKenzie ging ein paar hundert Meter weiter, aber als sie sah, dass in der unmittelbaren Umgebung keine anderen Häuser standen, gab sie auf und kehrte zurück. Das Cottage stand auf einer kleinen Anhöhe, das Grundstück dahinter fiel sanft zum Fluss hin ab. Ein kleiner Teil des Grundstücks war eingezäunt, der Rest mit Bäumen verschiedenster Herkunft bewachsen, und wie Constable Smith schon gesagt hatte, führte ein gekiester Weg hinunter zu einem kleinen Bootshaus, das aber leer war. Der Gedanke lag nahe, dass die Tatwaffe im Fluss entsorgt worden war, und McKenzie blickte sich aufmerksam um. Sie entdeckte keine Spuren, jedoch war das Ufer recht flach zugänglich – es wäre wohl nicht schwierig, einen Gegenstand in den Fluss zu werfen, die Strömung würde diesen in tiefere Stellen wegspülen. Was könnte der Täter benutzt haben? Einen Stein, einen Knüppel, einen Totschläger? Wohl eher etwas Schweres, das sofort sank. Kein Holz. Der Pathologe würde Näheres sagen können.
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