McKenzie nickte dem Wirt zu und ging auf die beiden zu. „Guten Tag.“
Der eine, um die sechzig, längliches Gesicht und Knollennase, auf der eine runde Brille thronte, blickte auf. „Sie sehen doch, dass wir in einem Gespräch sind. Es hat noch genügend freie Tische hier.“
„Ich bin Detective Inspector Charlotte McKenzie, Polizeiwache Gairloch. Darf ich bitte Ihre Ausweise sehen?“
Der andere, dicklich, mit einer rötlichen Hautfarbe, die verriet, dass er viel Zeit im Freien verbrachte, knurrte etwas Unverständliches und griff sich dann in die Hosentasche. Beide produzierten ihre Personalausweise, die sie als Engländer aus London identifizierten.
„Was tun Sie hier?“
Es stellte sich heraus, dass die beiden Finanzleute aus der City waren und einen Monat Anglerurlaub in den Highlands gebucht hatten. Sie residierten allerdings in der Nähe von Ullapool und hatten sich nur ausnahmsweise soweit südlich vorgewagt, weil ihnen eine Zufallsbekanntschaft verraten hatte, dass die Fischerei im Hinterland von Gairloch viel erfolgsversprechender sei, als dort, wo sie zuerst ihre Ruten ausgeworfen hatten.
„Ihre Anglerlizenz?“
Der Knollennasige rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Wir wollten diese heute lösen, aber das Amt war geschlossen. Deshalb sitzen wir hier. Wir diskutierten gerade, ob wir hier übernachten und unser Glück morgen versuchen sollten.“
„Öffnen Sie bitte Ihre Rucksäcke.“ McKenzie war streng. Offensichtlich hatten die beiden wirklich etwas zu verbergen, wenn auch mit aller Wahrscheinlichkeit keinen Totschläger, mit dem sie einem Einheimischen den Schädel eingeschlagen hatten.
„Wir sind ehrbare Bürger. Was gibt Ihnen das Recht, unsere Sachen zu durchsuchen?“, brauste der Rotgesichtige auf. „Kein Wunder, geht es mit dem Land bergab, wenn harmlose Gäste von der Polizei belästigt werden. Ich werde mich bei meinem MP beschweren.“
„Tun Sie das. Was Ihre Frage betrifft - das Gesetz gibt mir jedes Recht, Ihre Taschen auf illegalen Fang zu durchsuchen. Zeigen Sie mir bitte jetzt sofort den Inhalt, bevor ich Sie in die Zelle schicken muss.“
Da aller Protest nichts half, taten die beiden Sportsfreunde schliesslich wie geheissen. Ihre Rucksäcke enthüllten vier prächtige silberne Lachse, die von McKenzie sofort beschlagnahmt wurden. Darüber hinaus verfasste sie mit nicht geringem Vergnügen eine saftige Anzeige wegen Verstosses gegen das Anglergesetz und entliess die beiden mit einer Verwarnung, sich nicht wieder in der Gegend blicken zu lassen.
Damit hatte sie den Mord aber noch nicht aufgeklärt. McKenzie übergab die Lachse an Malcolm Bligh für die Küche und bat ihn im Gegenzug, ihr seinen Pickup zu leihen, damit sie nach Gairloch zurückkehren konnte.
Donnerstag
„Da ist einer abgemurkst worden! Das ist voll krass.“ Paul sprach schon seit einer Viertelstunde von nichts anderem. Christina hatte langsam die Nase voll davon. „Unglaublich, was diese Frau im Pub gestern da erzählt hat. Laut Reiseführer sollte dieser Ort hier angeblich so ruhig und friedlich sein. Und jetzt sind wir mitten in einer Mordermittlung.“ Sie blickte anklagend ihren Mann an. „Ich hatte ja gleich gesagt, wir sollten aus dem Pub raus. Jetzt werden die Jungs nur noch an diese grässliche Geschichte denken, und unser Urlaub ist im Eimer!“
Mark sah das gelassener. „Sei doch froh, dass die Jungs genügend interessiert sind, dass sie sich das ganze Kauderwelsch hier angehört haben. Ich habe noch nie einen so fürchterlichen schottischen Akzent gehört, wie von dieser alten Frau. Dass die Jungs überhaupt etwas verstanden haben, wundert mich eigentlich. Aber so kommt es wenigstens ihren Sprachkenntnissen zugute. Und sie haben eine ganze Stunde lang still gesessen und zugehört, ohne auf ihren Handys rumzuhacken.“
Obwohl all diese Beobachtungen zweifellos zutrafen, konnte Christina der Sache doch keine positive Seite abgewinnen. „Und was ist, wenn der Mörder noch frei hier herumläuft? Müssen wir jetzt immer die Türe abschliessen und können nachts nicht mehr rausgehen?“
„Jetzt mach mal halblang. Die ganze Sache hat doch nichts mit uns zu tun. Da wird wohl einfach ein Streit aus dem Ruder gelaufen sein. Die Polizei wird den Täter schon finden. Ich nehme an, übermorgen beherrscht ein anderer Dorfskandal das Gespräch.“
Stefan und Paul protestierten beide. „Wir werden uns im Pub weiter herumhören. Toll, was wir dann in der Schule erzählen können. Vielleicht entdecken wir ja einen wichtigen Hinweis und können so zur Aufklärung beitragen.“
„Untersteht euch, an so was auch nur zu denken. Wir sind hier fremd. Fehlt noch, dass sie euch beide als mögliche Tatverdächtige verhaften, wenn ihr zu viele Fragen stellt.“ Christina hatte ihren Humor wieder gefunden. Immerhin war es doch recht unwahrscheinlich, dass die Geschichte noch weitere Kreise ziehen würde. Man kannte ja niemanden der Beteiligten. Ausserdem hatte sie für den Tag bereits einen Ausflug nach Ullapool geplant, und so hätten die Jungs auch keine Gelegenheit mehr, ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, die sie nichts angingen. „Keiner von euch ist volljährig, so kommt ihr allein sowieso nicht in das Pub rein. – Wer hilft mir beim Abwasch?“
Stefan hatte gar nicht zugehört. „Weiss jemand, wo genau der Mord stattgefunden hat? Die Frau hat, glaub ich, ein Cottage erwähnt. Mam, du hast doch eine Foto gemacht – kann ich die noch mal sehen?“
„Was für eine Foto?“ Einen Moment lang hatte Christina den verrückten Gedanken, er meine, sie hätte den Mord fotografiert. Dann fiel ihr das weisse Häuschen ein, von dem sie am Vortag auf ihrem Morgenspaziergang ein Bild für Stefan gemacht hatte. Er hatte sich dieses gestern ohne Kommentar angeschaut. Woher dieses plötzliche Interesse? Trotzdem holte sie ihren Fotoapparat und klickte zu dem Bild zurück. Es zeigte, durch Bäume über den Fluss hinweg aufgenommen, ein kleines, weissgestrichenes typisches Cottage. Davor grasten Schafe, jedenfalls wenn man die kleinen weissen Punkte auf dem Bild als Schafe interpretieren konnte.
Stefan schaute sich das Bild an und dachte laut nach. „So ähnlich muss wohl auch der Tatort sein. Die Frau hat gesagt, das Haus sei ziemlich abgelegen. Wäre schon eine Sensation, wenn du zufällig das richtige Haus fotografiert hättest, Mam. Dann wär das ja ein Beweisstück.“
„Blödsinn.“ Christina nahm ihrem Sohn die Kamera unwirsch weg, warf aber doch noch einen Blick auf das Bild. „Wenn dir nicht was Gescheiteres einfällt, nimm das Abtrock-Tuch und hilf mir. Sobald wir mit dem Frühstücksgeschirr fertig sind, wollen wir nach Ullapool. Heute ist wieder ein schöner Tag, und wir könnten Delfine beobachten.“
Mark kam zur Tür herein, als sie gerade mit dem Abwasch fertig waren. Er hatte inzwischen das Auto vollgetankt und im Dorfladen einen kleinen Imbiss für unterwegs geholt. Auch er hatte Neuigkeiten von dem verflixten Mordfall.
„Im Laden sprechen sie von nichts anderem. Der Inhaber, ein Mr. Fraser, hat den Verstorbenen offenbar gekannt. War ein alter Knabe, der ganz für sich allein gelebt hat. Scheint ein anständiger Kerl gewesen zu sein, alle sprechen nur in den höchsten Tönen von ihm. Und alle rätseln, wieso ausgerechnet ein solcher Mann, der zudem noch regelmässig in die Kirche ging, ermordet worden ist.“
„Wie wenn ein Kirchgänger nicht ermordet werden könnte…“ Christina wollte nicht zynisch klingen, aber der Zusammenhang erschloss sich ihr nicht ganz.
„Weiss man, wie der Mann umgebracht worden ist?“ Das kam von Paul. Christina blickte ihn aufmerksam an. Der Junge war nicht mehr wiederzuerkennen. Die pubertäre Tristesse und No-Bock-Haltung, die ihn im letzten halben Jahr geprägt hatten, waren komplett von ihm abgefallen. Er interessierte sich tatsächlich mal für irgendwas, das nicht nach einem komplizierten Regelset in der Cyber-Welt um sich ballerte. Traurig nur, dass ihn offenbar auch in der realen Welt vor allem der Aspekt der Gewalt faszinierte. Christina hätte es viel lieber gesehen, wenn er sich für den bevorstehenden Ausflug hätte begeistern können.
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