Was sie verwirrte, waren ihre eigenen Gefühle. Bislang hatte es ihr keine Probleme bereitet, ihm seine Freiheit zu lassen, doch jetzt wo sie sicher sein konnte, dass er auch Spaß dabeihaben würde und wusste mit wem, hatte sie das Bedürfnis, es zu verhindern.
Dieser Instinkt ärgerte sie, weil die Alian nie heirateten und mit einem einzigen Partner zusammenlebten. Anscheinend war sie doch ebenso sehr aus der Art geschlagen, wie Drakkan, Droin und Kmarr. Leider gereichte es ihr in ihrem Fall nicht zum Vorteil.
Seufzend wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Stab zu. Hölzer verschiedener Bäume waren darin zu einer Gestalt verschmolzen: rissig vom Alter, rau und entsetzlich verzerrt. Für sie gab es keinen Zweifel, der gequälte Gesichtsausdruck ließ sie schaudern. Es war in jedem Fall eine Dryade, wenn auch die seltsamste, die sie je gesehen hatte.
Als wäre sie erst von einer gewaltigen Kraft zusammengedrückt und gleichzeitig in die Länge gezogen worden. Im Holz verbargen sich überall Runen, meist in Form kleiner Blätter. Außerdem gab es zahlreiche Stellen mit goldenem Harz, in dem eingeschlossen, winzige Ausgaben von Tieren oder Pflanzen zu erkennen waren, wenn man sie gegen das Licht hielt. Bei manchen hatte sie das Gefühl, als würden sie sich bewegen.
Überhaupt machte der Stab einen sehr lebendigen Eindruck. Ganz so, als wüsste er genau, dass sie da war und ungeeignet, ihn zu führen.
Im Augenblick war sie dazu auch noch nicht bereit.
Die Gedanken wanderten hin und her.
Stab, Drakkan, Jiang, Stab, Phyria und wieder zurück. Nichts davon hob ihre Stimmung. Und eingesperrt zu sein, half auch nicht unbedingt. Mit zusammengebissenen Zähnen hockte sie am Rand der Hecke und starrte vor sich hin, bis sie schließlich in unruhigen Träumen versank.
1 - 19 Ein hölzernes Puzzle -
Wie gut und leise die kleinen Gestalten aus Schilf auch waren, Shadarr spürte sie dennoch auf. Während sie sich der schlafenden Jiang mit deutlicher Absicht näherten, glitt Shadarr ebenso lautlos näher an seine Beute heran. Obwohl es eigentlich unmöglich war, fiel er nicht auf. Noch bevor eine der Kreaturen den Lagerplatz betrat, schlug er zu.
Mit einem mächtigen Satz begrub er gleich drei von ihnen unter sich. Er hörte ihre Körper brechen, biss einem den Kopf ab und riss einen dort entzwei, wo bei einem Menschen der Bauchnabel gewesen wäre.
Sie raschelten laut, während dickflüssiger, grünlicher Saft aus den Wunden floss. Dann lagen sie still.
Ein süßlicher Geruch von Zucker und Zitrone stieg Shadarr in die empfindliche Nase.
Er musste niesen, bevor er sich nach weiterer Beute umsah.
Er war nicht der Einzige, der etwas von Heimlichkeit verstand.
Die kleinen Kreaturen waren so raffiniert verborgen, dass er keine mehr entdecken konnte, solange sie sich nicht bewegten. Vermutlich waren sie geflohen.
Das alles hatte nur wenige Herzschläge gedauert, so dass Jiang nicht davon wach geworden war, sondern selig weiterschlief. Ohne ein Geräusch zu machen, betrat Shadarr die Lichtung im Schilfmeer, um sich mit seiner Beute neben der kleinen Shâi nieder zu lassen.
Die beinahe, wie die Puppen kleiner Kinder anmutenden Wesen schmeckten, wie sie rochen: süß und nach Zitrone.
Ihre Körper zersplitterten wie Zuckerrohr oder Bambus zwischen seinen mächtigen Kiefern. Zufriedenstellend war die Mahlzeit nicht, dafür umso nahrhafter. Nachdem er die fünf Kreaturen verspeist hatte, fühlte sich ein Magen an, also hätte er einen Stapel Brennholz verschluckt.
Er beschloss deshalb zu ruhen, bis Jiang erwachte. Sie konnte die anschließende Wache übernehmen. Schließlich hatte sie sich lange genug von ihm tragen lassen. Sie war wieder gesund, also war das nur gerecht. Er schlief ein und träumte von saftigen Rindern.
Jiang erwachte neben einem längst kalt gewordenen Feuer und dem riesigen Körper von Shadarr, der ruhig und gleichmäßig atmete.
Zunächst konnte sie nur ein Auge öffnen, für mehr fehlte ihr die Kraft. Außerdem schätzte sie, dass es nichts gab, dass ihr nicht wehtat. Ihre Haut brannte, die Muskeln schmerzten bei jeder kleinen Bewegung und ihr Magen lieferte ständig Krämpfe.
In ihrem Nacken hatte sich offenbar etwas eingeklemmt, denn sie konnte ihren Kopf nur in eine Richtung drehen.
Erstaunt stellte sie fest, dass neben den Schmerzen auch eine leichte Lähmung existierte, die sie zusätzlich behinderte. Eine Erklärung fand sie dafür nicht, denn ihre Erinnerungen an die letzten Tage waren bestenfalls vage. Sie erinnerte sich daran, Anayas Gift genommen zu haben und an das Feuer, um ihre dreckige Kleidung zu verbrennen. Davor war alles ziemlich verworren.
Zunächst blieb sie deshalb ruhig liegen. Mit einer einfachen Atemübung klärte sie ihre Gedanken. Nach und nach gelang es ihr, den Schleier zu zerreißen, der über ihren Erinnerungen lag. Kaltarra, Phyria, die Bootsfahrt, das Siegel, die Flutwelle.
Ihrem Gespür nach, waren mindestens zwei oder drei Tage vergangen. Da sie nirgends den Fluss oder die Stadt mit dem Tafelberg sehen konnte, musste Shadarr sie getragen haben. Kein Wunder, dass sie sich so zerschlagen fühlte. Ihre Fieberträume waren zum Glück nur eine blasse Erinnerung. Allmählich kehrte das Gefühl in ihren Körper zurück. Sie konnte sich bewegen, wenn die Schmerzen auch kein Vergnügen daraus machten.
Für einen Außenstehenden wirkte es noch immer so, als wäre ihre Körper an unmöglichen Stellen biegsam, in ihrer eigenen Wahrnehmung bewegte sie sich dafür eher wie Droin.
Schließlich hatte sie es in einen Lotussitz geschafft, in dem sie häufig für mehrere Kerzenlängen meditierte, um Kraft zu sammeln.
Dieses Mal wollte es ihr nicht so recht gelingen. Dafür war Ihr Körper einfach noch zu steif und schmerzte.
Als sie schließlich entnervt aufgab, war sie überzeugt davon, dass es am Zustand ihrer völlig verdreckten Kleidung und den verfilzten Haaren lag. Der Dreck störte den Fluss ihres Chi.
Um wenigstens etwas Sinnvolles zu tun, barg sie das Chi-An aus ihrem Gepäck.
Die hölzerne Puzzle-Box, in der das mystische Spiel verborgen war, ließ sich nur öffnen, wenn man wusste, wie man die Verzierungen ziehen, schieben, klappen und drehen musste.
Jedes Element stand symbolisch für ein Element einer Geschichte. Kannte man die Geschichte, war es leicht die Box zu öffnen.
Sie hatte das Kästchen schon ein paar Mal untersucht, aber die Symbole passten zu keiner Erzählung, die sie kannte.
Da es sich einst um ein Geschenk gehandelt hatte, ging es vielleicht um den Beschenkten.
Leider brachte sie dieser Gedanke zunächst auch nicht weiter, weil sie nicht wusste, für wen es ursprünglich angefertigt worden war.
Wieder versuchte sie einen Ansatz zu finden, immerhin musste der Schenkende aus Shâo ja davon ausgegangen sein, dass es dem Empfänger aus Kalteon möglich war, die Box zu öffnen.
Ein Irrtum, denn augenscheinlich war es nicht so gewesen.
Ausgerechnet in diesem Augenblick fiel ihr der winzige Jadedrachen am Rand der Box auf. Ein Symbol für den Kaiser. Trotz der geringen Größe hätte ein Shâi es nie gewagt, ihn zu berühren. Ein Kalteaner hätte damit keine Schwierigkeiten gehabt. Jiang drückte ihn vorsichtig ein Stück ein. Dadurch konnte sie ein angrenzendes Stück Holz drehen, was ihr an anderer Stelle wiederum erlaubte, etwas zu verschieben.
Schritt um Schritt verfolgte sie die Lösung, die sich wie eine Schlange um die Kiste herum wand. – Nein, nicht um das Kästchen, sondern um die Bergsymbole herum, die Kalteon darstellten und sich nach und nach sogar zu einer Landkarte des Landes verschoben.
Der Drache im Bergreich. Verzückt klatschte sie in die Hände. Der Handwerker musste ein Meister seines Faches gewesen sein.
Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie erkannte, wohin sie die Elemente führten: zum Jadedrachen.
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