Christian Ortner - Hört auf zu heulen

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Sie meinen es ja wirklich gut und machen damit trotzdem alles noch schlimmer. Wenn Politiker einen Mindestlohn einführen, haben die Verpackerinnen hinter der Supermarktkasse keinen Job mehr, wenn NGOs eine Schiffsladung alter Kleider nach Nicaragua schicken, bricht die dortige Textilwirtschaft zusammen und wenn Lehrer den Leistungsdruck von den Kindern nehmen, unterliegen diese später im Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt. Christian Ortner porträtiert in seiner neuen Streitschrift mit gekonnter Polemik eine verweichlichte Gesellschaft und zeigt die verheerenden Resultate ihres sozialen Wunschdenkens. Gut geht nicht, so sein Resümee. Wenn Europa nicht alte Werte wie Leistung und Disziplin wiederbelebt, fährt es gegen die Wand.

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Christian Ortner Hört auf zu heulen I Enttäuschung Wut und natürlich die - фото 1
Christian Ortner: Hört auf zu heulen

I. »Enttäuschung«, »Wut« und natürlich die unvermeidliche »Betroffenheit« sind in der wohlhabenden deutschsprachigen Mitte Europas zu einer Seuche geworden, die vermutlich ungefähr so viel Schaden anrichtet wie Klimawandel, Waldsterben und Fukushima zusammen.

Er sei, tobte im Frühling 2013 ein junger, gar nicht unbegabter österreichischer Journalist auf seinem Blog, in seinem ganzen Leben »noch nie so respektlos und miserabel behandelt worden … Ich bin wütend. Ich bin enttäuscht. Es tut verdammt weh …«

Ursache der argen Seelenpein des Mannes war ein in der Tat etwas herzlos geratenes Schreiben des österreichischen Staatsfernsehens ORF gewesen, in dem ihm beschieden wurde: »Wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass das Traineeship, für welches Sie sich beworben haben, leider nicht stattfinden wird.

Für Ihr Engagement sowie für Ihre Geduld beim Warten auf die Entscheidung danken wir Ihnen sehr herzlich. Falls wir 2014 ein solches Traineeship anbieten, finden Sie die Informationen dazu im Dezember auf jobs.orf.at. Wir wünschen Ihnen für Ihren weiteren Weg alles Gute!«

Grund der Absage war nicht etwa die mangelnde Qualifikation des jungen Mannes gewesen – die hatte er einem aufwändigen Auswahlverfahren bereits unter Beweis gestellt – sondern eine Entscheidung des Senders, doch keine derartigen Praktikanten einzustellen. Blöd gelaufen, sozusagen.

Verständlich ist da ja bis zu einem gewissen Grad, dass der verhinderte Trainee sich nicht eben gut behandelt fühlte und darob eher schlechte Laune aufriss.

Was aber bringt jemanden dazu, so mimosenhaft, heulsusig und vor allem völlig ohne jedes Gefühl für angemessene Proportionen derart emotional zu hyperventilieren – und das noch dazu in aller Öffentlichkeit? Es tut verdammt weh?

Selbst Armin Wolf, Anchorman des ORF und wohl bekanntester Fernsehjournalist des Landes, konnte es sich nicht verkneifen, dem Sensibelchen auf Facebook einen kleinen Reality-Check zu spendieren: »Ich habe mal – mit einigen sehr engagierten, tollen Kollegen – ein Jahr lang an einem Web-Projekt gearbeitet, das dann nicht zustande kam, weil das Budget letztlich doch nicht vorhanden war«, schrieb Wolf. »Nicht ideal, echt nicht lustig, viel verlorene Arbeits- und Lebenszeit, aber das passiert in Unternehmen. Man ärgert sich trotzdem – und das zu Recht.

Aber: ›Ich wurde in meinem Leben noch nie so respektlos und miserabel behandelt‹?

Echt jetzt? Ist das Ihr Ernst?

Eine vergebliche Bewerbung, ein ebenso vergebliches Assessment, eine durchaus höfliche Absage – das ist die miserabelste Behandlung eines ganzen Lebens?

Ich muss jetzt mal etwas leicht Polemisches sagen: Herr Kollege, ich fürchte, Sie müssen sich für Ihr Berufsleben eventuell noch auf ein paar Enttäuschungen einstellen, die deutlich größer ausfallen können.«

Das stimmt natürlich. Doch das gilt freilich nicht nur für unseren armen verhinderten Trainee und auch nicht nur für das Erwerbsleben. Was auf den ersten Blick wie die leichte Übersensibilität eines vielleicht emotional noch nicht ganz austarierten jungen Mannes erscheinen mag, ist nämlich nicht eben unsymptomatisch für die Befindlichkeit erheblicher Teile der Bevölkerung und der politischen Eliten in den westlichen Sozialstaaten des frühen 21. Jahrhunderts. »Wütend«, »betroffen« und »enttäuscht« zu sein, auf was und von was auch immer im Einzelnen, ist zu einem Massenphänomen geworden, das sich längst dem Gesetz von Ursache und Wirkung entzogen hat und zu einer Art frei schwebenden Befindlichkeit geworden ist.

Ausgerechnet jener Teil der Welt, dessen Bewohner vor den Unannehmlichkeiten des Lebens vom fürsorglichen Nanny-Staat weit umfänglicher, aufwändiger und kostspieliger beschützt werden als alle anderen Menschen auf diesem Planeten, entwickelt sich immer mehr zu einer Zone der Weinerlichkeit, des Jammerns und der weitgehenden Unwilligkeit, die Unbilden des Daseins mit angemessener Gelassenheit hinzunehmen. Und zwar quer über nahezu alle sozialen, regionalen oder Altersgruppen hinweg. Alle Menschen werden Brüder – aber Brüder im Geiste einer unglaublichen Wehleidigkeit.

Man muss sich nur eine der zahllosen TV-Quasselshows des deutschen Sprachraums ansehen, um das Ausmaß des Leidens erfassen zu können, das angeblich Europa erfasst hat. Die Jugend? Eine verlorene Generation. Die Alten? Von Altersarmut, Alzheimer und Mangel an Pflegern bedroht. Deutsche und Österreicher? Müssen für die faulen Südeuropäer zahlen. Griechen und Portugiesen? Werden von den Troika-Faschisten unterdrückt. Reiche? Werden enteignet. Arme? Verarmen. Arbeitgeber? Bekommen keine guten Arbeiter mehr. Arbeiter? Haben in halb Europa keine Arbeit. Sparer? Bekommen keine Zinsen. Kreditnehmer? Bekommen keinen Kredit mehr. Schüler? Klagen über Lehrer. Lehrer? Klagen über Schüler. Und so weiter und so weiter ohne Ende, die Gegenwart ein nicht enden wollendes Jammertal, in dem das blanke Elend regiert und dessen Bewohner ausschließlich Angehörige irgendeiner (oder noch besser gleich mehrerer davon) schwer benachteiligten Minderheit sind.

Kleiner Einschub: Ein ganz besonderes Talent, mimosenhafte Wehleidigkeit zum Lebensstil zu machen, zeigen übrigens regelmäßig ausgerechnet diejenigen, die den jungen Menschen eigentlich die zum Überleben im Dschungel des 21. Jahrhunderts notwendige Härte beibringen sollten – die Lehrer. Wann immer dieser Berufsgruppe eine kleine Änderung ihrer Arbeitsbedingungen zugemutet werden soll, verfallen deren Angehörige in kollektive Heulkrämpfe, als sollten sie künftig im Uranbergbau Untertagearbeit leisten. »Es ist schon jetzt so, dass es im Lehrerbereich einen sehr hohen Anteil von teilbeschäftigten Personen gibt. Das liegt in erster Linie daran, dass es die Leute nicht aushalten, so viel zu arbeiten …«, greinte etwa ein österreichischer Lehrergewerkschafter angesichts der von der Regierung angedrohten Zumutung, die wöchentliche Unterrichtsverpflichtung des Lehrkörpers auf brutale 26 Stunden pro Woche zu erhöhen. Angesichts von nur rund 180 unterrichtsfreien Tagen pro Jahr für österreichische Lehrer ja wirklich ein Grund, in konvulsivische Heulkrämpfe zu verfallen.

Das Einzige, worin sich alle die Benachteiligten, sozial Entrechteten und sonstwie Geschundenen einig sind: »Der Staat« soll zahlen, wegen der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs, und überhaupt.

Ganz prächtig gedeihen Weinerlichkeit, die Kunst des Betroffenheitsposierens und als Mitgefühl verkleidete Larmoyanz auch dort, wo im katholischen (in Österreich eher) oder evangelischen Milieu (in Deutschland verbreitet) Feste der Rührseligkeit und der Betroffenheit gefeiert werden, bei denen unter den Überschriften »Armut« oder »Ungerechtigkeit« oder »Sozialer Ausgleich« oder so ähnlich des Jammerns kein Ende ist. »So viel Müll. So viel Ungerechtigkeit. So viel Bomben. So viel Gezocke. So viel Gewissenlosigkeit. So viel – was kein Mensch braucht«, greinte etwa beim evangelischen Kirchentag 2013 die Hamburger Bischöfin Kerstin Fehrs geradezu artentypisch – eh, nur leider schaffen die Betroffenheitstsunamis keine Tonne Müll weg, beseitigen keine Bombe und hindern niemand am Zocken. »Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Protestanten stolz drauf waren, dass der Geist des Protestantismus auch immer der Geist des Kapitalismus war, weil beide auf die Autonomie des Individuums setzen und auf Eigenverantwortlichkeit. Protestantismus, das hieß einmal euphorische Bejahung der Moderne, der Industrialisierung, der Emanzipationskraft, die allein der Kapitalismus bereit stellt, indem er tradierte, repressive und – nicht selten katholische – vormoderne Strukturen zerschlägt«, notierte da zu Recht Alexander Grau im Magazin »Cicero«, und spottete: »Wäre der Kirchentag lediglich die Hauptversammlung der Rührseligen und Harmoniesüchtigen, die ergriffen Kerzchen über die Elbe schaukeln lassen, man könnte ihn als Folkloreveranstaltung abtun. Doch hinter der süßlichen Rhetorik verbirgt sich ein moralischer Fundamentalismus … (um) all jene zu missionieren, die nicht geneigt und nicht willens sind, die heilige Dreifaltigkeit aus Antikapitalismus, Pazifismus und Ökologismus anzubeten.«

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