Helmut Ortner - Ohne Gnade

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"Eine erschütternde Geschichte der Todesstrafe." Deutschlandradio Kultur
"Du sollst nicht töten!" Das erste Gebot der Bibel gilt weltweit in allen Kulturen. Sieht ein Staat aber in seiner Verfassung die Todesstrafe vor, so ist das Töten juristisch legitimiert. Diesem Grundwiderspruch geht Helmut Ortner in seinem engagierten Buch nach.
Es geht um die Todesstrafe. Es geht um Vergeltung. Zu allen Zeiten und in beinahe jeder menschlichen Gesellschaft wurden mit staatlicher Legitimation – auch jenseits der Schlachtfelder – Menschen getötet. Gesetze, Exekutions-Methoden und Hinrichtungs-Inszenierungen haben sich geändert, geblieben ist der Glaube, etwas «Gerechtes» zu tun. Helmut Ortner beschreibt die Rituale der Vergeltung: Steinigen, Kreuzigen, Galgen, Guillotine, elektrischer Stuhl, Gaskammer – bis zur «zivilisierten» Giftspritze. Ein eindringliches, fulminantes Plädoyer: Weg von einer Kultur der Vergeltung, hin zu einer humanen Zivilgesellschaft.
Wenn vor allem das amerikanische Rechtssystem im Mittelpunkt steht, dann deshalb, weil die USA die einzige westliche Demokratie sind, die bis heute an der Todesstrafe festhält. Hier wird besonders sichtbar, dass staatliches Töten von Menschen nicht nur ein Instrument des Strafrechts ist, sondern immer auch ein Ausdruck der Gesellschaftsordnung und ihrer Weltbilder.
Mit einem Nachwort von Deutschlands streitbarstem Juristen Bundesrichter a.D. Prof. Dr. Thomas Fischer.

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Helmut Ortner

OHNE GNADE

Eine Geschichte der Todesstrafe

Mit einem Nachwort von

Prof. Dr. Thomas Fischer

Ohne Gnade - изображение 1

INHALT

Prolog

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Einleitung

Wenn der Staat tötet – Das lange Warten des Troy Davis

RITUALE

Die archaischen Strafen

Katalog des Tötens – Macht, Ehre und Tod

Töten mit Gottes Hand – Vergeltung und Versöhnung

Das letzte Mahl – Ein Friedensangebot

INSTRUMENTE

Die Technisierung des Tötens

Alle Macht der Maschine – Die Guillotine

Tod durch die Kugel – Das Erschießen

Strom im Körper – Der elektrische Stuhl

Sterben im „Aquarium“ – Die Gaskammer

Tod durch die Vene – Die Giftspritze

VOLLSTRECKER

Die Hände des Gesetzes

Das Amt des Henkers – Der Verfemte

Der Carnifex – Ein Dossier

„Ich war ein guter Henker“ – Ein Scharfrichter erzählt

Der Mann am Fallbeil – Johann Reichhart

VERMARKTER

Der Preis des Tötens

Amerikas Kampf gegen das Böse

VERKÜNDER

Die öffentliche Inszenierung

Theater des Schreckens – Volkskultur und Todesstrafe

Last Statement – Die letzten Worte Hingerichteter

Epilog

Nachdenken über die Todesstrafe – Ein Plädoyer

Ausblick

Zeit der Hoffnung? – Todesstrafe, die globale Realität

Wider die Todesstrafe – ein Nachwort

Von Prof. Dr. Thomas Fischer

Anhang

Dossier Tötungsmethoden – Vom Erdrosseln bis zur Giftspritze

Staaten, die seit 1976 die Todesstrafe abgeschafft haben

Quellen

Anmerkungen

Literatur

Editorische Anmerkung

Dank

»Die Todesstrafe ist für den größten Teil der Zuschauer weiter nichts als ein blutiger Aufzug, ein Menschenopfer, ein Schauspiel für Müßige und etliche die Veranlassung eines mit Unwillen vermischten Mitleidens. Diese beiden Leidenschaften beschäftigen den Zuschauer weit mehr, als dass sie ihm den heilsamen Schrecken einjagen sollten, welchen die Gesetze durch Lebensstrafen zu bewirken suchen.«

Cesare Beccaria, 1764

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Hinrichtungen zwecklos sind. Sie sind lediglich ein antiquiertes Relikt eines primitiven Verlangens nach Rache, das es sich einfach macht und die Verantwortung für die Rache auf andere überträgt.«

Albert Pierrepoint Englischer Henker, 1974

»Die Todesstrafe rettet Leben!«

George W. Bush US-Präsident, 2000

PROLOG

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Im Mai 2019 feierte Deutschland sich selbst. Das Grundgesetz wurde siebzig. Und tatsächlich durften die Deutschen diesen Geburtstag mit Freuden feiern. Grundrechte wie Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, auch Religionsfreiheit – alle diese und andere Grundrechte sind alles andere als selbstverständlich. Die Deutschen können sich glücklich schätzen – und sollten die Grundrechte schützen. Auch Artikel 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit

Als das Hinrichten in Deutschland abgeschafft wurde, da dachten die allermeisten Deutschen noch anders. Laut einer 1949 von den Stuttgarter Nachrichten veröffentlichten Umfrage des Allensbach-Instituts befürworteten damals 74 Prozent der westdeutschen Bevölkerung die Todesstrafe. Viele fanden die Todesstrafe nicht per se schlecht, meinten aber, die Nazis hätten es damit in den zurückliegenden Jahren doch allzu arg getrieben.

Ein irritierendes Ergebnis, nur wenig Jahre, nachdem das „Tausendjährige Reich“ unter Schutt, Schuld und Scham ein Ende gefunden hatte. Hatten die Nazis nicht genug barbarische Urteile gesprochen, immer öfter und immer schneller gegen Kriegsende, auch für immer geringere Vergehen? Hingerichtet wurde per Handbeil, Guillotine, Strang. Mehr als 16 000 Hinrichtungen insgesamt, ausgeführt von einem Dutzend ehrgeiziger Nazi-Henker, die gut dotiert ihr blutiges Handwerk bis zum bitteren Ende ausführten, so allein in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee 2891 Exekutionen zwischen 1933 und 1945. Der Nazi-Staat mordete nicht nur an der Front. Der Volksgerichtshof und Sondergerichte fällten Todesurteile, Scharfrichter und ihre Helfer vollstreckten – bis zum bitteren Ende.

Doch auch nach der „Stunde Null“ wurde in Deutschland noch hingerichtet. Allein zwischen Kriegsende und der Gründung der Bundesrepublik wurden über 1000 Todesurteile verhängt, davon 128 in Gerichtssälen der Westzonen, wovon 24 dieser Urteile auch vollstreckt wurden. Die übrigen Todesurteile wurden von alliierten Gerichten gegen Kriegs- und NS-Verbrecher verhängt. So in den „Dachauer Prozessen“, die zwischen 1945 und 1948 im Internierungslager Dachau stattfanden, wo sich bis Ende April 1945 das KZ Dachau befand. 1672 Personen waren aufgrund des Verfahrensgegenstandes „Konzentrationslagerverbrechen“ angeklagt; 268 der insgesamt 426 verhängten Todesurteile wurden im Kriegsverbrechergefängnis im bayerischen Landsberg durch Hängen vollstreckt, einige vom vormaligen NS-Henker Johann Reichhardt, der nun für die amerikanischen Sieger Exekutionen durchführte. Von ihm wird in diesem Buch noch die Rede sein.

Im September 1948 kamen im Bonner Museum Koenig die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates zusammen, um mit der Arbeit am Grundgesetz zu beginnen. Die Abschaffung der Todesstrafe wollten sie als sichtbares Zeichen im Sinne einer wiedergefundenen Humanität verstanden wissen. Freilich, nicht alle – vor allem konservativ-nationale Politiker – waren damit einverstanden. Das genaue Ergebnis ist nicht protokolliert. Historiker rekonstruierten aber später eine deutliche Mehrheit von 47 zu 15 Stimmen. Damit war die Todesstrafe abgeschafft. Das stand damals europaweit nur in den Verfassungen von San Marino und Island.

Einmal noch wurde vollstreckt: am Morgen des 18. Februar 1949. Der Raubmörder Richard Schuh war vom Landgericht Tübingen zum Tode verurteilt worden. Und in der DDR, wo die Todesstrafe bis 1981 per Guillotine oder „Nahschuss“ 164 Mal vollstreckt worden war, wurde sie 1987 endgültig abgeschafft. Der letzte Todeskandidat, Werner Teske, war wegen „schwerwiegenden Landesverrats“ am 26. Juni 1981 durch „unerwarteten Nahschuss in das Hinterhaupt“ in Leipzig hingerichtet worden. Ob Ost oder West: Deutschland, einig Vaterland – die Todesstrafe ist abgeschafft.

Heute kann ein Staat nur dann Mitglied der EU sein, wenn er dem staatlichen Hinrichten abgeschworen hat. Eine übergroße Mehrheit der Deutschen lehnt – anders als 1949 – heute die Todesstrafe ab. Ein Grundgesetz ohne Artikel 102 ist undenkbar geworden.

Berlin, im April 2020: Jahr für Jahr gibt es eine sehr traurige Pressekonferenz in der deutschen Hauptstadt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International legt ihren Bericht über Todesurteile und Hinrichtungen vor: eine irritierende Bilanz der Inhumanität, ein Dokument des Schreckens. Immerhin: der aktuelle Bericht für das Jahr 2019 beginnt diesmal mit einem Hoffnungsschimmer. Die Zahl der offiziell vollstreckten Todesstrafen ist im vergangenen Jahr im Vorjahresvergleich deutlich zurückgegangen. Von (mindestens) 690 Hinrichtungen im Jahr 2018 sank die Zahl auf 657. Doch beim Weiterlesen trübt sich der helle Schein der Statistik sogleich wieder. Auch wenn es weniger registrierte Hinrichtungen gab: das wahre Ausmaß der weltweiten Anwendung bleibt unbekannt. Es ist davon auszugehen, dass die mit Abstand meisten Hinrichtungen in China stattfanden. Zahlen gibt es keine, da diese Informationen als Staatsgeheimnis behandelt werden. China unberücksichtigt, fanden 86 Prozent der weltweiten Hinrichtungen in nur vier Ländern statt: Iran, Saudi-Arabien, Irak und Ägypten. Zusammenfassend bilanziert der Bericht: Am Ende des Jahres 2019 hatten 106 Länder (die Mehrheit der Staaten weltweit) die Todesstrafe im Gesetz für alle Verbrechen abgeschafft und 142 Länder (mehr als zwei Drittel aller Staaten weltweit) sie per Gesetz oder in der Praxis nicht mehr vollstreckt. Eine erfreuliche Tatsache. Darf man sich Hoffnung machen? Im letzten Kapitel dieses Buches wird darauf noch einmal detailliert Bezug genommen.

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