Helmut H. Schulz - Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung

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"Die Würde des Menschen" behandelt das Problem des gescheiterten sogenannten Maßregelvollzuges, «Abortus Artificialis», Probleme der Fristenregelung vor und hinter dem Recht. Die dritte Erzählung, «Corpus Hermiticum», ist aktueller denn je; die USA und England stehen vor der Einführung der Schwulenehe, Frankreich hat sie gerade eingeführt. In meiner Erzählung stehen die Vorgänge in San Francisco 1976 bis 1978 im Mittelpunkt, als Harvey Milk Stadtrat geworden war. Ihm schwebte so etwas wie eine Weltgemeinschaft der Schwulen vor; 1978 wurde er von Dan White erschossen.

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Helmut H. Schulz

Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung

Die Wiederherstellung der Humanen Integrität

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Inhaltsverzeichnis Titel Helmut H Schulz Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Helmut H. Schulz Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung Die Wiederherstellung der Humanen Integrität Dieses eBook wurde erstellt bei

Die Würde des Menschen. Die Würde des Menschen.

1.

2.

3.

4.

5.

Abortis artificialis oder Das Wunschkind

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Corpus hermeticum. Das dritte Geschlecht.

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Epilog.

Impressum

Die Würde des Menschen.

1.

Sie sah seinem Gesicht die Unlust an, als er das Sprechzimmer gleich nach ihr betreten und ihr die Rechte zur Begrüßung hingehalten hatte, mit abgewendetem Gesicht, eine seiner typischen Gesten, wenn ihm etwas nicht paßte. Übrigens war es nicht leicht, seinem weichen und glatten Gesicht die Stimmung abzulesen, der er sich gerade überließ. Sie hielt ihn für feinfühlig und von vielen für Außenstehende belanglosen Zufällen abhängig, aber es mochte sein, daß er sich außerhalb des Vollzuges durchaus anders benahm; ein Gefängnis bleibt immer ein Sonderfall und ein Häftling mit einer langen Strafe ein Risiko für sich selbst und für seine Umgebung. Alles beruht auf Regelmäßigkeit und auf Zwang. Der Gefangene ist nicht nur seiner Bewegungen beraubt, sondern auch seiner inneren Freiheit, seiner Würde, auf die er einen gesetzlichen Anspruch hat. Seine Therapie ging nach zahlreichen Sitzungen aber doch dem Ende zu und sie überbrückte die Zeit, ehe sie mit ihren Fragen - zum hundertsten Male dieselben - anfing, indem sie scheinbar suchend in ihren Akten blätterte und darüber nachdachte, ob und was sie versäumt haben könnte. Seine Aufforderung, ihn mit einem Handschlag zu begrüßen, hatte sie wie immer übersehen und also abgelehnt. Übrigens geschah es nach all den Monaten zum ersten Mal wieder, daß er sie auf diese Weise hatte begrüßen und sich ihr nähern wollen. Er mußte wissen, daß sie die Annnäherung ablehnte. Ihr Klient oder Patient rückte demonstrativ und beleidigt seinen Stuhl vom Tisch weg, sodass sich der Abstand zwischen ihnen jetzt auch sichtbar vergrößerte. Beide schwiegen. Sie suchte nach einem Anfang, auf den er eingehen konnte, aber sie war nicht ganz bei der Sache. Die zu ihm aufgebaute Beziehung schien ihr plötzlich gestört. Etwas stimmte nicht; das Arbeitsklima zwischen Patient und Interviewer, unerläßlich nach den Regeln der Therapie, war verloren gegangen oder in eine Krise eingetreten. Warnend fielen ihr gerade jetzt die Ratschläge einer der ältesten und erfahrensten, ihr sympathischsten Beamtinnen der Haftanstalt ein: »Achten Sie auf den Stimmungswechsel bei Ihrem Häftling und reichen Sie niemals einem lange Einsitzenden die Hand, vermeiden Sie menschliche Kontakte, schmusen Sie sich niemals an; der Gefangene wird ihre Annährung als Schwäche deuten und ausnutzen, um Sie unter seine Kontrolle zu bringen. Sie sind sein Feind, vergessen Sie das nicht! Will er etwas von Ihnen, muß er kommen, umgekehrt sollten sie ihn nicht nach seinem Befinden fragen; damit behalten sie die Führung...« Sie hatte hinzugefügt: »Noch eins, unter keinen Umständen mit einer Waffe allein die Zelle eines Langzeitgefangenen betreten, auch nicht mit Handschellen oder einem anderen zum Angriff nutzbaren Gerät. Es geht neunundneunzig Mal gut, einem Lebenslänglichen bedeutet ein Mord mehr oder weniger, eine Geiselnahme gar nichts. Er weiß, daß er nicht lange draußen ist, und wieder hier landet, aber er hat Sie vorgeführt, er hat gehandelt und es uns gezeigt und vor allem hat er seinen Rang im Bau erhöht oder gefestigt, etwas für den Häftling lebenswichtiges...«

Nun, sie war Therapeutin, die einzige im Bau und fühlte sich nicht für die allgemeine Ordnung zuständig. Außerdem glaubte sie an den humanen Vollzug. Ihr oblag es, sogenannte Triebtäter zu rehabilitieren, weil der Gesetzgeber davon ausging, daß diese Menschen einfach nur krank waren und nach der Regulierung ihres sozialen Fehlerverhaltens, mochte die Therapie länger oder kürzer dauern, der Gesellschaft wieder zuzuführen seien und sie selber auch noch glücklicher zu machen, sie wenigstens dazu zu bringen, sich in schwierigen Situationen zu beherrschen. Dies aber konnte eben nur durch die Annäherung, durch Vertrauen geschehen. Schließlich hatte sich die Therapeutin in diesem Gespräch mit der klugen Alten dahin ausgesprochen und von oben herab gesagt, als sei sie erst jetzt, just in diesem Augenblick erleuchtet worden: »Würde aber hat auch der Gefangene...« »Und das Gesetz auf seiner Seite«, bestätigte die Alte, »ich weiß, Paragraph drei, Strafvollzug, aber ich sage Ihnen, die Mehrzahl der Häftlinge hat nicht die geringste Ahnung von seiner Würde; es sollten auch nur die zusammengelegt werden, die ähnliche Delikte und also ähnliche Strafen verbüßen. Nun, es sind wunderbare Zeiten...«

Dies also fiel ihr ein, sie sagte leichthin: »Ja, Sie sind jetzt anderthalb Jahre bei mir in der Maßregel und wir beide arbeiten..., wie lange zusammen?« »Das wissen Sie doch«, sagte er phlegmatisch und ablehnend, ohne sie anzusehen. Kurz danach zeigte er sich wieder bereitwillig und erklärte lebhafter: »Ein dreiviertel Jahr, denke ich, müßte längst im Freigang sein, Hafturlaub kriegen, oder?« Sie wußte, was sie beide hinter sich hatten, wie oft sie zur Erkundung seines seelischen Grundzustandes in diesem Zimmer mit ihm zusammengetroffen war und ihn in endlose Fragen und Antworten verwickelt hatte, aber sie wußte nicht wirklich, zumindest im Augenblick nicht, wie weit sie nun eigentlich waren, sie mit ihm und er mit ihr. In der Tat stand ihm der Freigang nach angemessener Zeit zu und übrigens nach dem mit der Leitung besprochenen Maßregelplan und festen Terminen. Ihr Handwerk war ausgeschöpft. Und er spürte sicherlich etwas von ihrer Unsicherheit und stellte sich darauf ein. Manchmal hatte sie das Gefühl der Zufriedenheit gehabt, das sich einstellt, wenn das zu erreichende nahe scheint; dann wieder fand sie ihn versperrt, sie wäre demnach keinen Schritt weiter gekommen mit diesem Mann, einem gefährlichen Triebmörder, mit Jahren Haft und dem Ausnahmefall der Maßregel, ein Rückfalltäter, der sie allerdings von all ihren Klienten in der Haftanstalt seiner Intelligenz wie seines überlegenen Auftretens wegen am stärksten interessierte.

Martin, wie sie ihn bei sich mit Vornamen nannte, war ein Mann von Mitte vierzig, davon hatte er einen Teil hinter Gittern verbracht; er war groß, gut gebaut, kräftig und gesund, mit einem regelmäßigen nichtssagenden runden Gesicht, einer, der Bücher aller möglichen Richtungen bestellte, um mit ihr gelegentlich darüber zu diskutieren, etwa über Raskolnikow, den klassischen Kriminalroman, ein Buch, auf das sie übrigens erst durch ihn aufmerksam gemacht worden war; ein Mann, der sich in zwei Sprachkursen der Anstalt eingeschrieben hatte, der ein Tagebuch mit genauen Eintragungen seines Tageslaufes führte, vom täglichen Krafttraining über philosophische Betrachtungen bis zu den reuevollen Ergüssen, wenn von seinem verfehlten Leben die Rede war, der Bitte um Verzeihung und dergleichen; all das war im Tagebuch ziemlich druckreif festgehalten wie ein Psychogramm; er hatte sie bereitwillig darin lesen lassen, um mit ihr darüber zu sprechen.

Er war auch heute wie immer sauber und gepflegt, und sie mußte sich erneut vor Augen halten, daß dieser äußerlich völlig normale Zeitgenosse seine dritte Haftstrafe verbüßte, zwei davon vorzeitig beendet, mit Glück durch Straferlaß wegen tadelloser Führung, ehe er endlich im dritten Anlauf in den Vollzug kam, das heißt, seine Richter hatten die Strafe vorsorglich heruntergesetzt, beeindruckt von dieser Persönlichkeit, um ihm den Weg nach draußen über die Maßregel offen zu halten.

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