Andersen verschaffte sich nur einen oberflächlichen Überblick: Reden über das Wetter, ein Magazin, das vor über zwanzig Jahren ausgestrahlt worden war, Spruch und Widerspruch, eine kontroverse Talkshow mit prominenten Gästen und Welt im Wandel - Chance oder Niedergang. Andersen lernte das Fernsehgesicht eines eloquenten und gutaussehenden Mannes kennen, der mal ein souveräner Gesprächsleiter, mal wendiger Studiogast war. Von Zabern konnte charmant sein, aber auch knallhart, und bei Bedarf legte er eine geradezu abstoßende Arroganz an den Tag. In jeder Situation schien er Herr der Lage zu sein, ein Mensch, der gewohnt war, auf Widerspruch zu stoßen und dies sogar genoss.
Wer war der private von Zabern, der sich hinter all diesen Attitüden verbarg? Anne, seiner Tochter, zufolge hatte die Arbeit für ihn an erster Stelle gestanden. War er einer dieser Medienmenschen gewesen, die mit den Jahren des Erfolgs die eigene Persönlichkeit mit dem künstlich geschürten Bildschirm-Image verwechselt hatten?
Seit Anfang der achtziger Jahre war von Zabern mehr und mehr zu einem Guru der Friedens- und Umweltbewegung avanciert. Ein Attentat, das 1985 auf ihn verübt wurde und ihn nur leicht verletzte, verstärkte sein Image als weltweite Identifikationsfigur. Fotos dokumentierten von Zaberns Prominenz: Er war an der Seite des Papstes zu sehen, schüttelte auf dem Gipfel der G8-Staaten in Genua die Hand des britischen Premierministers. In einem Zeitungsinterview versicherte er, angesprochen auf seinen inzwischen legendären Bestseller, dass man den klimatischen Zustand der Welt zu sehr verharmlose, wenn man von fünf vor zwölf rede. „Die korrekte Uhrzeit ist zwanzig nach zwölf oder sogar noch später, doch dazu muss man sich klarmachen, dass der Handlungsspielraum der Regierungen heutzutage im Vergleich zu damals sehr stark eingeschränkt ist. Internationale Konzerne bestimmen weitgehend die Politik und auch die werden nicht von Menschen, sondern von langfristigen Strategien zur Gewinnmaximierung geleitet. Die Globalisierung verdammt die Menschheit quasi dazu, die Hände in den Schoß zu legen.“
„Das macht die Sache also um so dramatischer?“
„Ich würde sagen: um so tragischer. Für Dramatik ist es zu spät.“
Der Hauptkommissar schob erneut ein Video ein. Dieses Mal warnte ein in die Jahre gekommener, abgeklärter Benno von Zabern in einem Interview vor Schwarzmalerei. Der Jahrhundertwinter, der in Nordeuropa Tausende von Opfern gefordert habe, mache jedoch auf eindrucksvolle und drastische Weise deutlich, dass es, was die Notwendigkeit von entschlossenen Gegenmaßnahmen betreffe, fünf vor zwölf sei.
Erst fünf vor, dann zwanzig nach, dann wieder fünf vor. Offenbar, dachte Andersen, ist seine Uhr manchmal vor- und machmal rückwärts gegangen. Ein Blick auf die eigene Uhr sagte ihm, dass der Feierabend nicht mehr weit war.
Er sah sich noch einmal die erste Cassette an, da sie einen späten Fernsehauftritt von Zaberns dokumentierte. Wie ein kurz nach dem Start eingeblendetes Datum verriet, war diese Aufzeichnung erst drei Wochen alt.
Außer der Moderatorin und von Zabern gab es noch drei andere Studiogäste: einen Sozialwissenschaftler der Wilhelmsuniversität Münster, einen Vertreter der Landesregierung und eine Umweltaktivistin der Regenwaldpiraten. Die Runde setzte sich über die Frage Ökologie in der Politik – kein Thema? auseinander. Andersen beobachtete von Zabern, der sich entspannt in seinen Sessel zurücklehnte und der Diskussion wie von weitem zu folgen schien, und wartete gespannt auf den Streit, der laut Nelli zwischen ihm und der Aktivistin entflammt war.
Leider erwies sich das Video als fehlerhaft. Sekunden bevor sich von Zabern in die Diskussion einmischte, versagte der Ton. Der Wissenschaftler gestikulierte, die Kamera zoomte ganz nahe an ihn heran. Von Zabern hatte ein rotes Gesicht und eine Ader an seiner Schläfe trat hervor. Der Uniprofessor neben ihm musterte ihn besorgt, geradezu perplex, dann begann die Gegenattacke der Umweltschützerin, die von Zabern mit verschränkten Armen, aber immer noch schwer atmend, über sich ergehen ließ.
Mit einem Ruck blieb das Videoband stecken. Das Bild verschwand.
„Na gut“, meinte Andersen und schaltete das Gerät aus. „Dann also Feierabend.“
***
Er hatte das Gefühl, wieder einen Nachmittag verschwendet zu haben. Trotz der ermüdenden Flut von Fernsehbildern konnte er sich immer noch keine rechte Vorstellung vom Ermordeten machen. Andersen brauchte sie aber, um ermitteln zu können. Darüberhinaus spielte es eine Rolle für ihn, ob das Mordopfer ihm sympathisch war. Nicht dass er seine Arbeit nur dann tun konnte, wenn das der Fall war. Es funktionierte auch, wenn er ihn unsympathisch fand. Doch die Frage, ob oder ob nicht, musste entschieden sein. Und was Dr. von Zabern betraf, so schien ein ganzer Berg Videocassetten nicht zu reichen, sie zu beantworten.
Dennoch, da war etwas, dessen Andersen erst im Nachhinein gewahr wurde. Ein kleiner Makel im ansonsten rundum makellos geschönten TV-Image des Wissenschaftlers. Der Hauptkommissar rief sich wieder die Szene ohne Ton in Erinnerung: Von Zabern mit hochrotem Kopf, gestikulierend. Wo war der smarte Moderator, der locker plaudernde Gesprächspartner, der niemals die Kontrolle verlor, so wie er sich in ausnahmslos allen anderen Fernsehmitschnitten präsentiert hatte? Was hatte von Zabern so erregt, dass er aus sich herausgegangen war?
Es konnte nicht schaden, wenn Andersen sich mit einem der Studiogäste unterhielt.
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