„Ich war nicht dort. Wir hatten uns für ein Interview verabredet, aber das kam nicht zustande. Ich war zu spät und überall waren Ihre Beamten. Da wollte ich mich dann nicht mehr einmischen.“
„Und was sagen Sie dazu, dass Sie am Tatort gesehen wurden?“
Kerkhoff strich sich über sein unrasiertes Kinn. Er sah Grunwald fragend an, der bestätigend nickte.
„Also gut, Kommissar. Ich bin dagewesen, weil ich dachte, ich würde Dr. von Zabern noch antreffen, obwohl ich zu spät war. Aber da war er schon tot.“
„Und was dann?“
„Der Mörder war noch da und muss zunächst die Flucht ergriffen haben. Doch später hat er sich an meine Fersen geheftet, wahrscheinlich glaubt er, dass ich etwas in Erfahrung gebracht habe.“
„Haben Sie das denn?“
„Wie sollte ich, Kommissar? Als niemand öffnete, kam ich über die Terrasse und fand von Zabern tot im Arbeitszimmer. Da habe ich gemacht, dass ich weg kam.“
„Sie kamen nicht auf die Idee, uns zu verständigen?“
„Leider nein, Herr Kommissar. Im Nachhinein bedauere ich das natürlich.“
„Natürlich. Sie haben nicht zufällig einen USB-Stick mitgenommen? Oder einen anderen Datenträger?“
Kerkhoff machte ein geradezu schockiertes Gesicht. „Ich weiß, dass es nicht richtig war, sich davonzustehlen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Beweismaterial unterschlagen würde.“
„Zuerst haben Sie auch behauptet, nicht am Tatort gewesen zu sein“, gab Grunwald zu bedenken.
„Ich möchte noch einmal auf den größeren Zusammenhang zu sprechen kommen“, sagte Andersen. „Sie wollen der Welt beweisen, dass es Ufos gibt, richtig?“
„Ich will gar nichts beweisen, sondern herausbekommen, warum man es verheimlicht. Erst vor einer Woche war ich in den schottischen Highlands, wo so ein Ding abgestürzt ist.“
Andersen nickte. „So stand es in Ihrem Artikel zu lesen.“
„Ich weiß, Sie halten alles für Humbug. Aber als ich einen EU-Parlamentarier befragen wollte, der mit der Sache zu tun hat, hat man mich mit dem Auto aufs Korn genommen, um ein Haar hätte man mich erwischt. Das habe ich mir nicht eingebildet.“
„Warum wollten Sie Dr. von Zabern interviewen? Er ist Klimaforscher und hat nicht das Geringste mit fliegenden Untertassen zu tun.“
Kerkhoffs Hand fuhr in seine Jackeninnentasche und zog mit einem einzigen Griff ein Foto heraus.
Andersen nahm es entgegen und sah zwei Männer, die in die Kamera lächelten. Einer der beiden trug weiße Hose und Jackett, in dem anderem, in Bermudashorts und T-Shirt, erkannte der Hauptkommissar Dr. von Zabern, wenn er auch noch wesentlich jünger war. Im Hintergrund befand sich etwas, das wie eine antike Ausgrabungsstätte aussah.
„Das ist Kevin Mansfield, ein britischer Historiker“, erklärte Kerkhoff und deutete auf den Mann neben von Zabern. „Die beiden Männer stehen direkt vor der Tempelanlage von Hagar Qim auf Malta. Sie ist über 5000 Jahre alt. Über die Erbauer weiß man bis heute so gut wie nichts. Machen Sie sich klar, dass das alles schon stand, als die Cheopspyramide noch nicht einmal geplant war. Dr. Mansfield hat aber inzwischen den klaren Beweis erbracht, dass die technischen Möglichkeiten der Jungsteinzeit bei weitem nicht ausreichten, um einen solchen Gebäudekomplex zu errichten.“
„Verstehe“, meinte Andersen. „Jetzt werden Sie mir außerdem erklären, dass man die eigentliche Form des Bauwerks sowieso nur aus der Luft erkennen kann.“
„Es ist ein Lorbeerblatt“, nickte der Journalist, ohne auf die Häme einzugehen. „Oder ein extraterrestrisches Symbol. Tatsache ist, dass sich die Symmetrie nur in einer Ansicht aus großer Höhe erschließt.“
„Und darüber wollten Sie Dr. von Zabern befragen?“
„Dieses Foto brachte mich auf die Idee, dass er sich möglicherweise mit außerirdischer Intelligenz beschäftigt. Deshalb bat ich ihn um ein Interview und er willigte ein.“
„Er erklärte sich bereit“, fragte Andersen ungläubig, „mit Ihnen über diese Dinge zu sprechen?“
„Höchste Zeit, dass alles auf den Tisch kommt. Alles ohne Ausnahme. Das sagte er wörtlich.“
„Einmal angenommen, Sie liegen richtig mit Ihrem Verdacht“, sagte Hauptkommissar Grunwald. „Warum, glauben Sie, will man verheimlichen, dass es so etwas gibt? Ein echtes Ufo, das wäre doch die Sensation.“
Kerkhoff zuckte mit den Schultern. „Aus Furcht, dass es eine Panik auslösen könnte? Oder weil es um das Geschäft des Jahrtausend geht? Ich habe keine Ahnung.“ Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und vermischte ihn dabei mit dem Blut aus seiner Wunde. „Investigativer Journalismus, meine Herren, gibt sich nicht mit windigen Vermutungen zufrieden. Er will Antworten, deshalb stellt er Fragen.“
„Ich besorge Ihnen ein Pflaster, dann können Sie das verbinden“, sagte Andersen.
Alles deutet darauf hin, dass Gott, als er die Welt erschuf - insbesondere die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht - einen großen Modellversuch im Sinn hatte. Er hatte herausgefunden, dass nirgendwo im grenzenlosen All eine solche Flora und Fauna gedeihen konnte. Entweder war es eiszeitlich kalt wie auf dem Mars oder kochendheiß wie auf der Venus. Man brauchte eine Durchschnittstemperatur von fünfzehn Grad Celsius, damit überhaupt etwas gedeihen konnte.
Also entschloss er sich, seine geliebten Setzlinge in einem Treibhaus heranzuzüchten.
Dazu versah er die Erde mit einer Art Glasdach aus atmosphärischem Wasserdampf, der sie vor schädlicher Sonnenstrahlung schützte und die Sonnenwärme speicherte.
Die Natur gedieh und brachte den Menschen hervor. Der vermehrte sich rasend schnell und bildete eine hochtechnisierte Zivilisation, die auf Mengen und Abermengen fossiler Brennstoffe angewiesen war. Die Temperaturen im Treibhaus stiegen, das Leben wurde unangenehmer: der Schnee schmolz, das Wasser überflutete die Küsten. Der Modellversuch scheiterte kläglich.
Gott hatte wohl nicht bedacht, dass seine einzigartige Schöpfung so etwas wie den Homo Sapiens hervorbringen würde, das war die einzige Schwachstelle in seinem Projekt. Doch heutzutage gehen wir davon aus, dass es keinen Gott gibt. Die Frage ist also: Wer führt dieses Treibhausexperiment durch und zu welchem Zweck?
B. von Zabern in Spruch und Widerspruch.
Am Nachmittag verbrachte Andersen viel Zeit damit, die Heizung in seinem Büro zum Heizen zu bewegen, statt ein störendes glucksendes Geräusch von sich zu geben. Schließlich resignierte er, nahm das Material, das ihm Nelli Holm zur Verfügung gestellt hatte und zog in den Besprechungsraum um, wo es nicht nur einen funktionierenden Heizkörper, sondern auch einen Videorekorder gab.
Nelli Holms Sammlung umfasste circa zwanzig Videocassetten, eine Handvoll DVDs, dazu eine dicke Mappe mit gesammelten Zeitungsausschnitten, Würdigungen und Redetexten. Eine beeindruckende Menge. Es schien, als hätte Nelli sich auf den Tag vorbereitet, an dem sie als Hinterbliebene des großen Benno von Zabern die Presse mit lückenlosem Material für die Nachrufe versorgte.
Andersen hatte keine rechte Vorstellung davon, was er sich ansehen wollte, und machte sich nicht lange die Mühe, die krakelige Handschrift auf den Etiketten zu entziffern. Wahllos legte er eine Cassette ein und sah von Zabern in einer Gesprächsrunde, nach seinem Aussehen zu urteilen handelte es sich um einen relativ jungen Mitschnitt. Das zweite Video zeigte den Wissenschaftler gut zehn Jahre jünger, wie er vor einem großen Auditorium eine Rede hielt, allerdings auf Englisch. Andersen spulte vor und landete bei einer zwanzigminütigen Dokumentation über die Vita des Wissenschaftlers. Benno von Zabern, Jahrgang 46, ging 1968 gegen den Vietnam-Krieg auf die Straße, später machte er eine steile Karriere als Wissenschaftler. Er gehörte dem Club of Rome an, der 1972 den vielbeachteten Sachstandsbericht über die Grenzen des Wachstums veröffentlichte. Von Zabern errregte internationales Aufsehen mit dem kapitalismuskritischen Bestseller fünf vor zwölf und wurde kurz darauf vom Fernsehen entdeckt. In den folgenden Jahrzehnten moderierte er zahlreiche Wissenschaftssendungen, die Nelli nahezu vollständig auf Video aufgezeichnet hatte.
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