Ypek nickte wieder entschlossen, verzog dabei jedoch den Mund.
Als das Wasser anfing zu brodeln, wies Brand die beiden an, den geistesabwesenden Klai an Beinen und Händen festzuhalten. Mit sicheren Bewegungen begann er das Vorhaben.
So wie mehrere andere, stand Thef wenige Schritt entfernt vom Geschehen und sah mit verschränkten Armen zu, wie Brand sein Werk verrichtete. Klai zuckte und keuchte, als seine klaffende Wunde mit einem einfachen, doch sauberen Stück Stoff ausgewaschen wurde.
Ein unangenehmes Gefühl nagte tief in Thef.
Er trug einst eine annähernd identische Wunde aus einem Kampf davon, als er in seiner Jugendzeit einen kleinen „Auftrag“ für eine hochgestellte Persönlichkeit aus Naars Zweifel ausführen sollte. Nur mit knapper Not überlebte er damals. Noch heute erinnerte ihn eine lange Narbe auf seinem Bauch an das Geschehene. Beim Gedanken daran, presste er seine schmalen Lippen aufeinander. Sein eingefallenes Gesicht wirkte noch blutleerer als sonst. Die Augen auf Klai gerichtet, setzte er sich auf einen umgefallenen Apfelbaum. Dieser war zwar feucht, doch verschont vom klebrigen Schlamm der Erde um ihn, lag er fast einladend da. Während er sich setzte, schrie Klai, von Schmerz und Fieber überwältigt, sein Leiden in die Welt. Der erste Stich war getan und viele weitere würden folgen.
Brand schwitzte. Mit starren Gesichtszügen und sicherer Hand, nähte er die Wunde grob zusammen. Der Junge winselte ein letztes Mal, dann fiel er in Ohnmacht. Ohne Gegenwehr ging alles einfacher. Bald richtete sich Brand steifbeinig auf. Mit der Linken fuhr er sich über die schweißnasse Stirn, atmete tief ein und blieb einen Moment ruhig und regungslos. Sorgsam hatte er Klai verbunden und in eine schwere Felldecke gehüllt. Brand glaubte selbst kaum daran, dass sich die Anstrengung lohnen würde. Dennoch hatte er es versucht. Und sei es nur um seiner selbst willen. Mehr konnte nicht für Klai getan werden. Nichts hätte er sich vorzuwerfen.
Die Dämmerung brachte leichten Nebel mit sich. Ohne Eile begab sich die Sonne weit im Osten zur Ruhe. Zwei der jüngeren Rekruten, Gaal und Veoen, verrichteten die erste Wache. Mehr als ein Wachposten war nicht nötig. Aus dem Süden waren sie gekommen; das Land lag offen hinter ihnen, frei von Hügeln oder Wäldern. Keine Räuber waren hier zu vermuten, und alle anderen Himmelsrichtungen führten in die Leere des ewigen Abgrunds. So war nur die Brücke zu bewachen und die würde schon frühzeitig von allem künden, was sich nähern mochte.
Die Nacht war jung, ein Zwischenfall unwahrscheinlich und die Ablöse noch weit. So würfelten die beiden um Geld, das keiner von ihnen besaß. Es entspannte, lenkte von den nächsten Tagen ab und verdrängte die Gedanken an Klai, der die Nacht möglicherweise nicht überstehen würde.
„Hah!!“, stieß Gaal siegessicher aus. Sein Wurf zeigte eine Sieben und somit das zweitbeste mögliche Ergebnis beim „Poschn“, wie ihr Spiel genannt wurde. Unbeeindruckt griff sich Veoen den Würfelbecher. „Vergiss es!“, war sein Kommentar zum Übermut seines Gegners. In schneller Folge machte er drei Würfe und fluchte dann übertrieben, fast schon melodramatisch. Schon wieder hatte Gaal gewonnen, welcher sich sichtlich darüber freute.
„Deinen Sold kannst du vergessen! Hehe! ... Bis wir in Salzheim sind, hab‘ ich dir alles abgespielt! Dann sauf ich für dich mit.“
Sie spielten nicht um viel Geld. Schon gar nicht um Beträge in dieser Größenordnung. Fünfzig Silberstücke würde jeder von ihnen erhalten, sobald sie Salzheim erreicht haben mochten. Genug für Wein, Gesellschaft und einiges mehr. Es ging einfach um den geselligen Zeitvertreib, um das Prahlen und Fluchen, Ärgern und Jubilieren. Veoen konterte: „Ich bin ja nicht so und leih dir das Geld für ´ne Hure, sobald wir angekommen sind. Allerdings nur für ´ne bärtige Zwergenfrau ... ´ne andere ist zu gut für dich!“
Am liebsten hätte Gaal lauthals losgelacht, aber Garantor würde eine johlende Wache vermutlich persönlich über die Brücke werfen. Deshalb begnügte er sich mit einem unterdrückten Kichern, zeigte dabei allerdings so viele seiner krummen Zähne, wie sein schiefes Grinsen es ihm erlaubte.
So verstrich die Zeit bis zur Wachablöse. Die zweite und dritte Wache war ebenso ruhig und der Augenblick des Aufbruchs rückte näher. Die Luft frischte auf. Ein leichter Wind blies von Süden, als wolle er die Mannen zum Weiterziehen mahnen. Langsam, fast unbemerkt, warf die aufgehende Morgensonne die ersten zaghaften Strahlen über einen kleinen Hügel im Osten und schon bald regte sich das Lager. Schlaftrunkenes Murren und knackende Knochen, der sich streckenden Männer, prägten das Bild. Bewegung kam in das Lager. Blasen wurden entleert, das immergleich trockene Brot gekaut, Wasserflaschen weitergegeben. Die Maultiere wurden angespannt und Decken zusammengerollt.
Brand war schon eine Weile auf den Beinen und hatte einige Zeit bei Klai verbracht. Sein Zustand hatte sich nicht verändert. Zitternd lag er im Fiebertraum. Seine Verbände waren rot und aufgeweicht. Mit sicherer Hand wechselte er die Leinentücher um seine Wunde. Er bereitete ihn auf einen harten Tag auf der Tragbahre vor, indem er ihn fest in die schwere Felldecke einwickelte und auf der Bahre zurechtlegte. Garantor machte kurz vor dem Aufbruch noch eine Runde durch das Lager, legte die Marschordnung fest, und ebenso die Gruppen, die helfen mussten, Meisterlichs schweren Wagen auf dem sumpfigen Untergrund voranzubringen. Nachdrücklich mahnte er jeden seiner Männer zur Eile. Zwei Brücken mussten heute bewältigt werden. Ein Gewaltmarsch stand bevor. Ein jeder war sich der Strapazen bewusst und dennoch drängten sich mehrere Freiwillige um Klai. Keiner würde sich um die kräftezehrende Aufgabe drücken, die schwere Bahre durch den Schlamm zu schleppen. Zufrieden murrte der Zwerg. Wie schlecht die Chancen um Klai auch stehen mochten, niemand betrachtete die Bürde, ihn zu tragen, mit Unwillen. Dieser Umstand erfüllte Garantor mit Stolz. Genau das machte einen guten Trupp aus. Jeder stand für seine Gefährten ein. Dies war sein Abzeichen. Seine Bestätigung, gute Arbeit zu verrichten.
Meisterlich spuckte aus und machte es sich auf dem harten Kutschbock so bequem wie möglich. Er rutschte unruhig hin und her, nachdem er seine Ware kontrolliert und sich vergewissert hatte, dass mit Maultier und Wagen alles in Ordnung war.
Der Befehl zum Aufbruch kam bald. Fünf Mann zu beiden Seiten, gaben dem schweren Wagen einen Ruck, um ihn aus dem matschigen Untergrund zu lösen. Unwillig drehten sich die großen Holzräder. Mit lautem Schnauben zogen die Lasttiere an ihren Riemen und bewegten sich alsbald mit bestmöglicher Geschwindigkeit.
Der alte Brand war schon ein gutes Stück voraus und betätigte sich als Kundschafter. Die ersten Mannen kamen an die Brücke, als er schon nicht mehr zu sehen war. Mit sicheren Schritten und ernsten Mienen betraten sie das größte aller Bauwerke der Menschen: eine der Brücken um das Herz der Welt, um Naars Auge, dem Anfang und Beginn, der Geburtsstätte der ersten Menschen. Ehrfurcht einflößend lag das Nichts unter ihnen. Lediglich der Geruch nach Schwefel zeugte davon, dass unter den Nebeln irgendwo ein Ende der Tiefe zu erwarten war. Niemand sprach, Stille übermannte das Szenario. Die schwere Brücke hatte ihren Besuchern, abgesehen von monotonem Knarren, nichts zu sagen. Die Reisenden selbst antworteten mit hallenden Schritten und dem Klacken der Wagenräder, wenn sie von einer Planke auf die nächste überschlugen.
Lediglich der leise säuselnde Wind schien eine Geschichte zu erzählen. Unmerklich hob und senkte sich die Tonlage des kaum hörbaren Pfeifens. Es war die Geschichte der Ewigkeit. Der Ton des Lebens lag unverstanden in jedem Ohr, aber niemand hörte zu. Alles Sein konzentrierte sich auf den Moment, auf den Schritt, auf das Sehen des Nichts, auf das Deutlichwerden des nicht Vorhandenen.
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