Syrakos
oder die zweite Öffnung der Büchse der Pandora
Mit Bildern von Sabine Marie Körfgen und Maike Wesa
Ein modernes Märchen für alle Kinder, die auf der Flucht sind und gegen das Vergessen…
I.
Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit, da hielten die griechischen Götter seit vielen Jahrhunderten wieder einmal Rat auf dem Olymp. Lange hatten sie beobachtet, was die Erdenbürger so trieben: viele Menschen hatten die Götter vergessen und maßten sich an, deren Ordnung immer dreister zu zerstören. Reichtum und Glück waren so ungleich verteilt, dass die Götter beschlossen, einzugreifen. Ihre Wahl fiel auf Syrakos…
Syrakos war ein junger stattlicher Mann aus Arabien. Er entstammte dem Geschlecht der Sumerer. Der stolze Bursche war über die Landesgrenzen hinweg für seine Klugheit und Tapferkeit bekannt.Als Syrakos eines Morgens in das Büro kam, stand auf seinem Schreibtisch eine kleine Schatulle. Daneben lag ein Brief. Heute war der junge Ingenieur besonders vorsichtig, denn es war der erste April. Nach langem Zögern und Begutachten der geheimnisvollen Botschaft, öffnete er schließlich doch den Umschlag und fand darin einen Zettel.
Darauf stand:
„Bitte die Büchse der Pandora nach dem Öffnen
nicht wieder verschließen.
Der Schlüssel kann entsorgt werden.“
Kermel
Syrakos dachte zuerst an einen Aprilscherz, googelte dann nach „Büchse der Pandora“ und begriff alsbald: etwas Wichtiges musste in dem Kästchen sein. Soweit er verstand, war es die Hoffnung. Schnell öffnete er das wundersame Behältnis, steckte den goldenen Schlüssel in seine Hosentasche und ließ den Deckel der kleinen Schatulle weit offenstehen. ‚Hoffnung kann man immer gebrauchen.‘ dachte er. ‚Doch wer zum Teufel soll Kermel sein?‘ Nicht einmal Google wusste das…
Was Syrakos nicht ahnte- die Götter hatten ihre Hände im Spiel. Er wunderte sich nur, als ihn eines Nachts ein seltsamer Traum überkam: er musste auf einer langen Reise in das so genannte Gelobte Land zehn Prüfungen bestehen, eine schlimmer als die andere. Syrakos wachte schweißgebadet auf. Er verstand nicht: es war doch wunderschön hier- in seiner Stadt, in seinem Land. Ihm und seiner Familie fehlte es an nichts.
Dann ging er, wie jeden Morgen, duschen, stellte danach das Radio an und begann mit dem Frühstück. Aus seinem modernen Rundfunkempfänger hörte er die Stimme des Nachrichtensprechers: „Viele Eindringlinge befinden sich im Land und haben einen Krieg um die Macht begonnen, jedes Mittel sei ihnen Recht.“ Syrakos dachte, das sei schon wieder einer dieser makabren Fehlmeldungen. Davon gab es in letzter Zeit ziemlich viele. Ebenso, wie es inzwischen viel zu viele neue Rundfunk- und Fernsehsender gab. Kopfschüttelnd schaltete er den Apparat ab.
Er musste sowieso endlich zur Arbeit, denn er hatte einen wichtigen Termin.
II.
In seinem Büro angekommen, fuhr er eilig den Computer hoch. ‚Wann war noch mal der Termin?‘ Syrakos wunderte sich über die Störung auf dem Monitor. „Der ist doch nagelneu und das Beste, was es derzeit auf dem Markt gibt“ murmelte er vor sich hin. „Ich geh nach dem Termin noch auf einen Sprung in die IT- Abteilung und reklamiere den PC. Der spinnt schon wieder“ rief er seinem Chef zu. „Beeil dich aber!“ kam es zurück.
Als Syrakos endlich den Zeitpunkt für das Treffen im Kalender gefunden hatte und seine Jacke schnappen wollte, gab es plötzlich einen dumpfen Knall. Die Decke des großen Büros gab nach und die Wände stürzten ein.
Menschen schrien verzweifelt um Hilfe. Viele rannten panisch ins Freie. Bevor Syrakos einen klaren Gedanken fassen konnte, rief sein Chef: „Verschanze dich unter dem Tisch. Mach schon. Los!“ Dann herrschte nur noch Chaos. Syrakos blieb regungslos liegen. Er konnte immer weniger sehen und es wurde unerträglich laut.
Als sich der Lärm nach einer Weile gelegte hatte und der zu Boden sinkende Staub endlich wieder etwas zu erkennen gab, sah der junge Ingenieur, dass einige seiner Kollegen leblos am Boden lagen. „Macht euch hier raus, so schnell ihr könnt. Rennt um euer Leben!“ schrie eine verzweifelte Stimme. Syrakos‘ Blick fiel plötzlich auf die geöffnete Schatulle, die er heute Morgen auf seinem Tisch gefunden hatte. Sie war vollkommen unversehrt. Eilig griff er danach und rannte, so schnell es ging, aus dem Haus. Als er schließlich hinter den wenigen, unversehrten Teilen des Bürogebäudes verschnaufen konnte und realisierte, was passiert war, liefen die Tränen über sein Gesicht. Stundenlang saß er so.
Die Dunkelheit brach herein und hüllte die ganze Stadt in Schwarz. Der verstörte Syrakos wollte nur noch schlafen…
Doch mitten in der Nacht vernahm plötzlich er eine leise Stimme:
„Höre, was der Kermel spricht: wir schaffen das, drum glaub an mich.“
Syrakos drehte sich um, aber niemand war zu sehen. Bis zur Morgendämmerung hörte er nur noch das Donnern und Klagen.
Als der neue Tag anbrach waren die Menschen völlig orientierungslos. Niemand wusste, warum das alles geschehen war. Viele suchten nach ihren Lieben und Bekannten. Überall machte sich Trauer breit und Wut.
Auch Syrakos ging suchend durch die Straßen. Er war entsetzt: fast alles war zerstört.
Als er sich schließlich dem ehemaligen Basar näherte, hörte er ein paar Menschen, die lautstark debattierten.
Der mächtige schwarze Alraqqa sei jetzt der neue Machthaber. Er habe befohlen, alle Männer in seine Dienste zu stellen. Jeder, ab einem bestimmten Alter, muss in seine Armee, um die Feinde des neuen Herrschers zu töten. Ab heute Abend sollen deshalb die Mauern der Stadt für immer geschlossen bleiben. Keiner dürfe mehr rein, keiner raus. Alle männlichen Einwohner müssen dem Herrscher der Finsternis bedingungslos dienen, bei Weigerung drohe ihnen der Tod. Ebenso werde man Frauen und Kinder, die sie sich nicht „züchtig“ benehmen, quälen oder umbringen lassen.
Die meisten der Versammelten wollten, so schnell es ging, fliehen, denn sie fürchteten Alraqqas grausame Taten und ihren eigenen Tod …
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