Andreas Peter
I. Die Suche
Michael betrat die Festungsanlage durch den großen Torbogen. Er hatte seinen Fotoapparat mit. Eine Digitalkamera. Weniger, um Kunsthistorisches zu fotografieren, als vielmehr, um Architektur und Landschaft aufzunehmen, vor allem da, wo sie miteinander verschmolz. Er hielt sich abseits der Touristengruppen. Er hätte an einer der Führungen teilnehmen können, aber er fühlte sich immer in seiner Freiheit eingeschränkt, wenn er in vorgegebenen Bahnen über ein Areal gelenkt wurde. Die Uhr zeigte halb elf. Für eine Anlage wie diese eine ruhige Zeit. Nur vereinzelt liefen die Besucher über den großen Platz und durch enge Nischen. Die Weitläufigkeit und Stille bremste die Leute aus, machte sie aber nicht im Mindesten interessierter. Die Temperatur war noch erträglich. Michael schlenderte durch das historische Ensemble und ein lauer Wind strich ihm übers Gesicht. »Von irgendwo hier kann man sicher die Stadt gut sehen«, dachte er sich. Der Pflasterstein war holprig und man musste aufpassen, dass man sich nicht die Knöchel verknackste, aber er hatte flaches Schuhwerk an und genug Zeit mitgebracht. Die Gebäude warfen lange Schatten, da die Sonne noch recht tief am Himmel stand. Durch ein schmales Gewölbe sah er den Horizont. Von dort hinten musste man einen guten Ausblick haben.
Mittlerweile war er ganz allein. In diesen Teil der Festungsanlage hatte sich noch niemand verirrt. Offensichtlich wiesen die Lagepläne, die am Eingang verteilt wurden, nicht explizit auf eine Sehenswürdigkeit hin oder es hatte einfach noch niemand geschafft, sich bis dorthin durchzuarbeiten. Michael passierte den Durchgang und augenblicklich erfasste ihn eine frische Böe. Er genoss den Wind, der durch seine Haare strich, und schloss einen Moment die Augen, dann trat er an die Brüstung und blickte über die Stadt. Wahrlich keine Schönheit, aber von hier oben war es interessant, sie zu beobachten. Wenn Menschen wie Ameisen wirkten, dann verloren sie jegliche Bedrohlichkeit. Es war, als blickte man in ein Spielzeugland, dachte er. Über den Main fuhr ein Ausflugsdampfer. Nicht viel los. Ob sich dieses Gewerbe überhaupt noch lohnte? Michael drehte ab und ging die Brüstungsmauer entlang, bis er an eine Ecke kam, die wieder vom Hang weg führte. Der Weg war weitläufig und würde vermutlich irgendwo im Ostflügel der Anlage enden. Außerhalb der Festungsmauer war die Böschung grün bewachsen und vereinzelt standen Bäume herum. Gar ein kleines Wäldchen hatte sich hier gebildet. Zu seiner Überraschung stand dort draußen eine steinerne Bank. »Aber wie kommt man dorthin?« Er blickte die Brüstung entlang, doch nirgends war eine Treppe auszumachen. Schließlich lehnte er sich über die Mauer. Sie war hier vielleicht zwei Meter hoch, bis sie in den unregelmäßigen, begrasten Hang überging. Die Stille und Abgeschiedenheit lockte ihn. Sicher hatte dort lange niemand mehr gesessen. Von außen war es viel zu weit vom Tal bis zu dieser Stelle zu gelangen und sicherlich über Privatgrund. Aber wenn er hier von der Mauer sprang, wäre er in null Komma nichts dort. Er schwang sich auf die Brüstung und ließ die Beine außerhalb baumeln. Nun wirkte es höher als gedacht, aber das war wohl immer so. Mit den Füßen voran versuchte er sich langsam abzulassen. Als er mit gestreckten Armen von der Brüstung hing, löste er den Griff und hoffte gut aufzukommen. Das war leider nicht der Fall. Der unregelmäßige Boden ließ ihn sofort straucheln und er schlitterte ein Stück hangabwärts, bevor er sich wieder fing. Er rieb sich die Hände und begutachtete seine Kleidung. Außer ein paar Grasflecken und einem verstauchten Knöchel ging es ihm verhältnismäßig gut. Er lief die wenigen Schritte bis zur Bank und ließ sich dort nieder. Ein wirklich ruhiges Plätzchen und man musste nicht damit rechnen, dass alle naselang jemand vorbeikam.
Er machte es sich bequem und rutsche noch ein Stück in seinem Sitz zurück. Dabei gerieten seine Finger in die Ritze zwischen den beiden Steinen. Die Bank war als Zweisitzer konstruiert worden und zwischen den Quadern war ein schmaler Spalt. Er kam in Berührung mit etwas Weichem, Biegsamen. Vielleicht wuchs Gras zwischen der Bank hindurch, aber das war kaum möglich, denn ein weiterer, durchgehender Stein bildete eine Bodenplatte. Jeder andere hätte es wohl dabei belassen und sich keine weiteren Gedanken gemacht. Wahrscheinlich hatte jemand einfach seinen Abfall in die Bankritze gesteckt, wie das häufig geschah, aber Michael war ein neugieriger Mensch, also lugte er in die Dunkelheit zwischen den beiden Steinblöcken. Er sah ein kleines Plastiktütchen. »Ob hier jemand Drogen versteckt hat?«, dachte er und blickte sich suchend um, als müsste jemand da sein, der gleich seinen Anspruch darauf anmeldete. Schließlich bohrte er mit den Fingern in dem Felsspalt herum. Er bekam das Tütchen aber nicht zu fassen. Er brauchte ein Werkzeug.
Sein blick glitt über das Grünland um ihn und er beschloss, unter einem der Bäume nachzusehen. Irgendwo hier lag sicher ein abgebrochener Ast, der ihm weiterhelfen könnte. Schon nach kürzester Zeit wurde er fündig. Ein Stück Holz, das schmal genug war, um in die Ritze zu passen, aber nicht zu labil, als dass es abbrechen würde. Er ging zurück zur Bank und setzte sich in seine vorherige Position, das war am einfachsten. Er fummelte mit dem Stab zwischen den beiden Steinquadern herum und das Tütchen begann sich zu bewegen, aber er bekam es nicht zu fassen. Stattdessen schob er es so immer weiter in die Ecke, wo es noch schwieriger wurde, heranzukommen. So suchte er ein zweites Ästchen, mit dem er das Objekt greifen konnte. Zusammen mit dem ersten hatte er eine Art Pinzette, kniff das Tütchen links und rechts zusammen und zog es mit einem Ruck nach oben. Es fiel unter leisem Knistern auf die Bank.
Michael warf die Äste weg und begutachtete seinen Fund. Es war tatsächlich ein kleines Plastiktütchen. Ein Druckverschlussbeutel. Darin befand sich aber kein weißes Pulver, sondern eine Notiz auf weißem Papier, das sorgfältig zusammengelegt worden war. Er öffnete den Verschluss und zog langsam den Zettel heraus, als könnte er zu Staub zerfallen, wenn er nicht vorsichtig war. Dabei wirkte das Papier gar nicht sonderlich alt. Es war nicht verwittert oder dreckig, aber das lag wohl an der Tüte. Er nahm den Zettel in die Hand. Das Papier war fest und zart. Vorsichtig zog er es auseinander. Es war achtmal gefaltet und aus dem kleinen Zettelchen wurde ein halber DIN-A4-Bogen. Die Notiz war handschriftlich verfasst worden, mit einem feinen, blauen Stift. Michael hätte auf ein Mädchen getippt, aber die Schrift konnte auch einem lyrischen Jungen gehören. Er begann zu lesen:
Wer hätte gedacht, dass diese Nachricht jemals jemand finden würde? An diesen Ort verirrt sich sonst niemand und kein Mensch guckt nach, was in einer »Sofaritze« ist.
Interessant, dass du es getan hast. Die Frage ist: Was wirst du als Nächstes tun? Diesem Hinweis folgen 20 weitere. Wenn du sie alle findest, findest du mich. Aber ich will dich warnen, das ist keine Schnitzeljagd. Nichts für Abenteurer. Du findest am Ende weder einen Schatz, noch ein Patentrezept für Erfolg. Wenn du deinen Spaß haben willst, leg den Zettel wieder zurück. Du wirst nicht finden, was du suchst.
Wenn du es ernst meinst, dann stellt sich die Frage, ob du mit mir auf einer Wellenlänge bist. Wenn nicht, wirst du die weiteren Botschaften nicht finden. Wahrscheinlich nicht mal die nächste.
Der zweite Hinweis befindet sich in dem Ort, der den Namen der Symbolfarbe beinhaltet, die für die Antwort auf die folgende Frage steht:
Was ist das Wichtigste im Leben?
Dein Herz ist deine Festung.
Читать дальше