Johanna zog die Sandalen an und nahm das Handtuch um, dann führte Kerim sie vom Ausgang des Badegeländes zu einem nahen Gebüsch. Er drückte die Büsche auseinander und sie hatten einen ca. 10 Meter breiten Bach vor sich, dessen andere Seite auch mit Büschen bewachsen war. Kerim setzte sich ans Ufer und bot Johanna den Platz neben sich an. Sie wartete gespannt, bis er sich überwand: „Ich muss Ihnen gestehen, dass Sie mich gestern Abend unwahrscheinlich beeindruckt haben. Seit meine Freundin mich vor einiger Zeit verlassen hat, ist keine Frau so tief in mein Inneres gedrungen wie Sie, und ich habe ein wenig den Eindruck, dass es ihnen ähnlich geht. Deshalb schäme ich mich so sehr für meinen Überfall vorhin und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn schnell und vollkommen vergessen könnten. Denn ich mag Sie und hoffe, dass auf unserer Begegnung die Chance einer dauerhaften Freundschaft liegt.“
Nach diesen Worten atmete er tief ein, Johanna merkte, wie schwer ihm die Rede gefallen war, über die sie sich herzlich freute. Gerne wollte sie ihm ihr Verzeihen deutlich machen, und weil sie keine Lust zu wohlgesetzten Worten hatte, nahm sie seinen Kopf in die Hände und küsste ihn. Da ging ein freudiger Schimmer über Kerims Gesicht und er erwiderte den Kuss so herzhaft, dass sie sich erst trennten, als sie völlig außer Atem waren. „Du bist ein wundervoller Mann“, flüsterte Johanna, als sie wieder ruhig atmen konnte und beide einander in die Augen schauten. „Und du eine außergewöhnlich liebevolle Frau“, gab Kerim zurück, worauf Johanna ihn noch einmal küsste.
„Leider müssen wir unsere schöne Begegnung, für die ich dir so dankbar bin, erst mal beenden“, sagte Kerim nach einer Weile traurig. „Ich habe in zehn Minuten einen Termin, der bis Mittag dauern wird. Und eigentlich darf ich gar keinen persönlichen Kontakt zu einem weiblichen Gast haben. Natürlich will ich unser schönes Miteinander nicht aufgeben, dafür müssen wir eine Lösung finden. Ich gehe jetzt vor und bitte dich, diesen Platz erst in ein paar Minuten zu verlassen. Wenn du mich nach dem Mittag anrufst, kann ich dir einen neuen Treffpunkt nennen, meine Karte hast du ja.“ Er stand auf, küsste Johanna noch einmal und schlug sich durch die Büsche.
Johanna folgte ihm nach fünf Minuten und legte sich wieder auf die Liege, um in Ruhe über das Abenteuer nachzudenken, das sie eben begonnen hatte und das ihr in keiner Weise leid tat. Natürlich gab es jetzt ein Problem mit Arnim. Irgendwann musste er ihre Verbindung mit Kerim bemerken. Sollte sie ihm von vornherein klaren Wein einschenken? Da sie sich ja eh‘ von ihm trennen wollte, wäre das wohl die ehrlichste Lösung, aber wie sollte es hier im Hotel weiter gehen? Sie hatten die Suite noch fünf Tage und abgesehen von dem Problem mit der Lokomotive hatten sie jede Nacht miteinander genossen. Das jetzt einfach fortzuführen, käme ihr wie ein Verrat an gleich zwei Männern vor. Gut, sie hatte im Nebenraum noch ein Bett, das sie ja letzte Nacht schon benutzt hatte, als Arnim mit Laptop und Handy die Lokomotive reparierte. Wenn sie sich vollkommen dahin zurückzog, könnten sie sich aus dem Wege gehen. Doch sie musste ihm sofort sagen, wie es um sie stand.
Sie sah auf die Uhr: es war halb zwölf, noch eine Stunde bis zum Mittag. Wenn Arnim mit der Lokomotive fertig war, hätte er vielleicht nach dem Essen Zeit für das Gespräch, das sie ja, ohne von Kerim zu wissen, schon gestern beginnen wollte. Sie schwamm noch zwanzig Minuten, dann trocknete sie sich ab und ging zur Strandbar, um sich mit einem Raki Mut anzutrinken. „Na, schmeckt dir das Zeug?“, hörte sie plötzlich Arnim, der sich neben sie setzte und ebenfalls Raki bestellte. Johanna bestätigte, sie möge dieses Getränk. Sie sei viel geschwommen und habe in der Sonne gelegen, und jetzt wolle sie gerade zum Zimmer gehen. „Wie geht es denn deiner Lokomotive?“, fragte sie freundlich. „Die läuft, und kann morgen groß auftreten“, antwortete er strahlend, „ich wollte dir nur die freudige Nachricht verkünden. Aber ich war die ganze Nacht damit beschäftigt und bin hundemüde. Ich werde mich gleich nach dem Essen lang legen und glaube kaum, dass ich heute noch mal aufwache.“ „Gratuliere, du hast wirklich etwas Großes geleistet“, antwortete Johanna ehrlich, „geh‘ schon in den Speisesaal, ich komme gleich nach.“ Im Zimmer zog sie die Badesachen aus und warf sich ein leichtes Kleid über. Auf dem Weg zum Essen war sie gleichzeitig traurig und froh. Traurig, dass sie Arnim wieder nicht sagen konnte, wie es um sie stand, und froh, weil sie Zeit haben würde, Kerim zu treffen.
Das Essen verlief ruhig, denn Arnim konnte kaum die Augen offen halten. Johanna trank noch einen Mokka, Arnim ging schon zum Lift. Vorsichtshalber schaute sie nach dem Mokka leise ins Zimmer, Arnim schlief tief und fest. Vom Telefon im Treppenhaus rief sie Kerim an, der sagte, sie solle in einer halben Stunde rechts unten vor der Auffahrt auf ihn warten. Bei einem Glas Weinbrand in der Bar überlegte Johanna, wie der Nachmittag weitergehen würde. Was hatte Kerim vor? Dass er sie nicht im Hotel treffen durfte, war klar, wollte er mit ihr irgendwo hin fahren? Und was würde dann geschehen? Sie zog ihre besten Jeans und eine hübsche weiße Bluse an, sprühte einen Spritzer ihres kostbaren Parfums Stylessence an den Hals und legte eine Rosenquarzkette um. Wenig später stand sie an der Auffahrt, aufgeregt wie vor 16 Jahren bei ihrem ersten Rendezvous mit einem längst vergessenen Jungen. Doch schon hielt ein kleiner Honda vor ihr und Kerim öffnete von innen die Beifahrertür. Sie schlüpfte hinein, worauf er sofort losfuhr.
Nach 500 Metern hielt er an und beugte sich zu ihr, um sie zu küssen, was sie gerne erwiderte. „Ich freue mich, dass du dich frei machen konntest und möchte mit dir einen schönen Nachmittag erleben“, sagt er mit strahlendem Gesicht. „Was hast du denn mit mir vor?“, fragte Johanna gespannt. „Da gibt es mehrere Möglichkeiten“, antwortete er und fuhr los. „Wir haben ja eine ganze Menge miteinander zu reden, dafür würde ich mich am liebsten mit dir in eine kleine Teestube setzen. Wir können uns aber auch im Park auf eine Bank setzen, doch da kommen ab und zu Leute vorbei. Und schließlich können wir zu meiner Wohnung in der Nähe fahren, das ist auch nicht weit. Ich weiß aber nicht, ob du dazu bereit bist.“ Johanna dachte einen Moment nach. Zur Wohnung war sie noch nicht bereit, das hatte er mit seinem Feingefühl erraten. Und die Bank im Park sagte ihr auch nicht zu. „Wenn du eine ruhige Teestube kennst, lass uns dahin fahren“, entschied sie. Mit den Worten „OK, das ist mir auch am liebsten“, startete Kerim den Wagen.
„Was sagt denn dein Freund zu unserer Begegnung, oder hast du ihm noch nichts davon erzählt?“, fragte Kerim, als der Tee mit ein paar Süßigkeiten vor ihnen stand. Den Besitzer der Teestube schien er gut zu kennen. „Ja, das ist mein schwieriges Problem“, musste sich Johanna jedes Wort überlegen. „Eigentlich lieben wir uns noch“, fuhr sie nach einer Weile fort, „doch sein Eisenbahnhobby fordert immer mehr Zeit von ihm, so dass wir uns regelrecht auseinander gelebt haben. Um vielleicht noch wieder zueinander zu finden, habe ich ihn zu diesem Urlaub überredet, aber als ich vorgestern Abend das Thema anschnitt, hat er mir klar gesagt, dass ihm die Eisenbahn wichtiger ist als ich. In der Nacht habe ich dann beschlossen, mich von ihm zu trennen, fand aber gestern Vormittag keine Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräch, weil wir nie ohne Zuhörer waren.
Und dann bekam er mittags einen Anruf über einen Schaden an einer alten Lokomotive, die morgen einen Zug mit wichtigen Gästen fahren soll, da war er überhaupt nicht mehr ansprechbar, weil er per Notebook und Handy die Reparatur leitete. Ein Wunder, dass er gestern Abend mit mir ins Restaurant gegangen ist, wo wir uns begegnet sind, deine Augen waren wie eine Bestätigung für mich. Nach unseren Küssen am Ufer des Baches beschloss ich, ihm nachmittags endlich die Trennung zu verkünden und von dir zu erzählen. Doch er hat die ganze Nacht die Lokomotive repariert und ist gleich nach dem Essen ins Bett gegangen, wo er wohl bis morgen früh schlafen wird. Sobald er wach ist, will ich das Gespräch nachholen. Uff, jetzt brauche ich einen Raki.“
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