Wie bei einer Prozession schritten sie hintereinander die enge, gewundene Treppe hinunter. Lisa hüpfte munter immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, bis sie plötzlich verschwunden war.
„Lisa?“, rief Anke, die ihren Augen nicht traute. Eben war sie noch da, und eine Sekunde später nicht mehr.
„Was ist?“, fragte Kullmann hinter ihr.
Doch Anke hörte ihn nicht mehr. Panik hatte sie ergriffen. Sie rannte die Stufen hinunter, als sie plötzlich den breiten Rücken des Berliners sah.
Das fehlte gerade noch. Das Berliner Ehepaar hatte ihr Kind entführt.
„Halt! Bleiben Sie stehen“, rief Anke in gewohnter Polizeimanier.
Doch der Berliner dachte nicht daran. Blitzschnell verschwand er um die nächste Treppenwindung.
Anke beschleunigte. Manfred Deubler auch. Er eilte durch das Foyer. Anke rannte hinterher.
„Anke. Wo willst du denn hin?“, hörte sie Kullmanns Stimme hinter sich.
Sie hatte keine Zeit zu antworten. Sie sah, in welche Richtung Deubler rannte und steuerte die gleiche an. Wieder verschwand er, dieses Mal hinter einer der vielen Mauern. Ankes Panik wuchs ins Unermessliche. Sie hatte nicht gesehen, wohin er mit ihrer Tochter verschwunden war.
Wie von Furien gehetzt jagte sie blind drauf los, bis sie plötzlich mit einem fremden Mann zusammenstieß, der entsetzlich nach Fisch stank. Dieser stieß einige unfreundliche Laute aus, sprach in einer Sprache, die Anke nicht verstand. Dafür kapierte sie seinen Tonfall umso besser. Mit dunklen, fast schwarzen Augen funkelte der Fremde Anke böse an. Doch Anke wollte sich nicht einfach abwimmeln lassen. Immerhin war sie Lisas Mutter. Der würde sie mal kennenlernen.
„Anke. Bist du noch von Sinnen?“
Kullmanns Frage machte sie stutzig. Sie drehte sich um und schaute in ein fragendes Gesicht.
„Er hat Lisa“, stammelte sie und unterdrückte mit Mühe einen Weinkrampf. Dabei zeigte sie auf den Fremden. Doch als sie wieder nach vorn schaute, stand dort niemand mehr.
„Lisa sitzt an der Rezeption und lässt sich von den Mitarbeitern des Hotels amüsieren.“
Anke verstand nur Bahnhof. „Aber… Der Berliner hat sie doch entführt.“
„Ich glaube, das Berliner Ehepaar hat eine Paranoia bei dir ausgelöst“, bemerkte Kullmann dazu. „Komm rein und überzeuge dich selbst davon, dass es Lisa gut geht.“
Tatsächlich! Lisa saß auf der hohen Theke der Rezeption und ließ sich von einem Hotelangestellten Kunststücke zeigen. Neugierig geworden näherte sich Anke dem Treiben. Sofort hielt der Hotelangestellte inne, verbeugte sich vor Anke und stellte sich vor: „Drago Jurić, ich arbeite hier im Hotel als Kellner, vertrete zurzeit den Portier Josip Pedrović.“
Anke gab ihm die Hand. Sie musste sich mehrfach räuspern, bis endlich eine Stimme herauskam: „Ich heiße Anke Deister, die kleine Dame hier ist Lisa, meine Tochter.“
„Ein tolles Kind haben Sie“, lobte Drago sofort.
„Onkel Drago kann zaubern“, erklärte Lisa stolz.
„Und du auch“, murrte Anke ihr Kind an. „In welches Versteck hast du dich vorhin auf der Treppe weggezaubert.“
„Verrate ich nicht.“ Verschmitzt lachte die Kleine.
Drago zog einige Karten heraus, ließ Lisa eine aussuchen, die Anke sich ebenfalls ansehen durfte. Dann machte er einige verwirrende Handbewegungen. Als er fertig war, zog er die gleiche Karte aus Lisas Hosentasche. Lisa schrie auf vor Freude.
Anke spürte, wie ihre innere Anspannung nachließ.
Viel zu schnell beendete Drago seine Vorführung. Sie hätte ihm gerne noch ewig zuschaut, so gut tat ihr die Heiterkeit, die er mit seinen Kunststücken verbreitete.
„Drago muss noch arbeiten, sonst wird Dragos Chef böse“, erklärte er mit einem bedauernden Lächeln.
„Du kannst ihn doch wegzaubern“, schlug Lisa vor.
Anke fühlte sich peinlich berührt. Doch als sie sah, wie herzhaft Drago über Lisas Spitzfindigkeit lachte, fühlte sie sich erleichtert.
„Bist du jetzt beruhigt?“ Mit dieser Frage erinnerte Kullmann sie wieder an ihre wilde Verfolgungsjagd. Sie spürte, dass sie rot anlief und brachte nur ein kurzes Nicken zustande.
Anke und Lisa bogen in die schmale Gasse ein, die zum Hafen führte. Das geschäftige Treiben der vielen Touristen vermittelte der Stadt Lebhaftigkeit. Winzig kleine Geschäfte hatten geöffnet, die nur zu erkennen waren, weil die Klappenläden geöffnet waren, damit die Passanten ihr Warenangebot sehen konnten. Darunter gab es hauptsächlich Wurst, Käse und Wein, Drucke von Bildern, die Rovinj zeigten, Muscheln, Vasen und sonstige Souvenirs. Verträumt schlenderte Anke daran vorbei und erhaschte hier und da einen Blick auf die Verkäufer, die sich meist im dunklen Hintergrund aufhielten.
Plötzlich hörte sie laute Stimmen zwischen den Wänden, die nichts mit dem frohgelaunten Touristentreiben zu hatten.
„Det kannste mit mir nicht maachen. Da kannste wad erleben.“
Berliner Dialekt.
Das durfte nicht wahr sein, dachte Anke, der ihr Anfall von Raserei vor dem Frühstück immer noch peinlich war.
Doch je mehr sie hörte, umso deutlicher erkannte sie, dass sie tatsächlich die Stimme des Berliners Manfred Deubler hörte.
Dieser Mann verfolgte sie.
Oder sie ihn?
Suchend schaute sie sich um und fand ihn hinter einer baufälligen Mauer. Er diskutierte mit einem Fremden. Anke riss ihre Augen weit auf vor Erstaunen. Das war der nach Fisch stinkende Mann, mit dem sie den Zusammenstoß erlebt hatte. Beide Männer waren gleich groß und massig, beide Köpfe hochrot und beide hatten schwarze, fettige Haare. Das einzige, was sie unterschied, war die Tatsache, dass der Fremde ein Einheimischer war. „Du nix fertig bringen, du nix …“ dann folgte eine Salve auf Kroatisch, die aggressiv klang.
Manfred Deublers Gesicht war durchzogen von roten Äderchen, die für zu viel Alkohol sprachen. Und sein Berliner Dialekt klang unverwechselbar. „Ikke jacher mir net umsonst ab, du Fatzke. Det Heemeken wirst de doch noch jebacken kriegen. Ikke loss mir net inwickeln.“
Wieder eine kroatische Salve, die der Berliner mit einem: „Jewieft. Jewieft“ honorierte. „De Klafte wird kieken. Meent se doch, sie könnt sich katzbaljen.“ Die Stimmung schlug schlagartig wieder um. „Willste wohl mausen, wa? Du Kanalje.“
Plötzlich sah Anke etwas aufblitzen. Erschrocken schaute sie genauer hin. Es war ein Messer, das der Kroate blitzschnell gezogen hatte. Zu ihrer Überraschung gelang es Manfred Deubler, seinem Gegenüber das Messer aus der Hand zu schlagen. Als Gegenzug dafür erntete er einen Fausthieb. Die beiden großen Männer griffen sich gegenseitig an, verkeilten sich, rollten über den Boden und stießen dabei unflätige Schimpfworte aus.
Lisa zeigte mit dem Finger darauf und wollte etwas rufen.
Zum Glück gelang es Anke, ihre Tochter rechtzeitig in eine andere Richtung zu lenken. Auf alle Fälle wollte sie verhindern, dass Lisa jetzt schon von Ankes zwanghafter Spürnase angesteckt wurde.
Mit hastigen Schritten, denen Lisa kaum folgen konnte, steuerte Anke die Gasse an, die zum Hafen führte.
Als sie auf den offenen Platz trat, fiel eine innere Beklemmung von ihr ab. Sofort fühlte sie sich wieder im Urlaub. Alles lag friedlich und still vor ihr. Eine wunderbare Ablenkung.
Je weniger sie daran denken wollte, desto mehr hing sie allerdings mit ihren Gedanken weiterhin an dieser merkwürdigen Beobachtung. Sollte das Berliner Ehepaar in krimineller Absicht nach Kroatien gekommen sein? Leider verstand sie den Berliner Dialekt zu schlecht, weshalb sie nicht wusste, worüber Manfred Deubler gesprochen hatte.
Vielleicht war das auch gut so. Denn warum sollte sie sich damit beschäftigen? Sie war hier, um Urlaub zu machen und von den Kriminellen Abstand zu nehmen. Das Leben von der schönsten Seite zu genießen. Und das würde ihr nur gelingen, wenn sie ihre Nase nicht in fremde Angelegenheiten steckte.
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