Sie atmete tief ein.
»Aber wichtiger ist, was ich jetzt denke. Ich liebe ihn. Mehr, als ich es mir je erträumt habe.«
Der Arzt nickte.
»Ich habe bei unserer Ankunft etwas aufgeschnappt. Ich glaube, es war nicht unbedingt für meine Ohren bestimmt. Die Alte, Lotte heißt sie, wenn ich nicht irre, hat was von ›Erbe‹ gesagt.«
Marie hielt die Luft an. Aber es war wohl nicht mehr zu vermeiden, dass sie jetzt die Wahrheit sagen musste, um herauszufinden, auf welcher Seite der Arzt stand.
»Was wollt Ihr genau wissen?«, fragte sie.
»Was hat sie damit gemeint?«
Er sah, wie Marie zusammenzuckte, und hob eine Hand.
»Ruhig Marie. Du weißt, Matthias hat mich in der Hand. Ich tue Dinge, für die man brennen kann.«
Marie nickte. Matthias hatte ihr von den heimlichen Leichenöffnungen erzählt. Aber war das der einzige Grund, warum der Arzt so freundlich war? Von Brümme fuhr fort.
»Ich kannte deine Mutter. Zu meinen Pflichten gehört auch, hier immer wieder nach dem Rechten zu schauen. Als sie damals mit dir schwanger ging, habe ich sie untersucht. Und auch bei deiner Geburt war ich dabei. Es war Zufall, dass ich gerade in dem Moment hier war. Es war eine schwere Geburt. Sie hat drei Tage in den Wehen gelegen, fast hätte ich euch beide verloren. Im Wahn schrie sie immer wieder einen Namen und nach der Geburt, als sie mit hohem Fieber im Wochenbett lag, da redete sie immerfort davon, dass er es ihr nie verzeihen würde, wenn du stürbest. Ich bin zwei Wochen nicht von ihrer Seite gewichen und habe all meine Kunst aufbieten müssen, um sie zu retten.«
Marie begann zu zittern. Es war das erste Mal, dass sie etwas über ihre Geburt erfuhr. Nicht einmal Lotte hatte ihr erzählt, wie schwer es für ihre Mutter gewesen war, sie zur Welt zu bringen und dass von Brümme dabei gewesen war.
»Was hat sie noch gesagt?«, flüsterte Marie kaum hörbar.
Der Arzt trat näher zu ihr.
»Seit deiner Geburt trage ich dieses Wissen mit mir herum. Aber ich habe nicht einen Beweis dafür. Ich kann mir allerdings denken, wo du ihn vielleicht findest.«
»Was meint Ihr damit?«
Der Arzt sah sich gehetzt um. Wenn er jetzt weiterredete, war er auf Gedeih und Verderb mit Marie und ihrem Mann verbunden. Aber er wusste auch, dass es seine einzige Chance war, jemals wieder frei zu werden. Würde er dem Henker helfen, die Unschuld seiner Frau zu beweisen, dann könnte er mit ihm handeln und Rothenburg verlassen, denn das war sein Plan. Er musste in eine Stadt, in der er seine Studien weiter betreiben konnte.
»Ich weiß, wer dein Vater ist. Und ich denke, es gibt nur drei Möglichkeiten, wo man einen Beweis finden kann.«
Marie stockte der Atem. Der Arzt fuhr fort.
»Ich habe ihn ja behandelt. Jahrelang. Einmal, kurz vor seinem Tod, hat er mir gesagt, er habe seine Angelegenheiten geregelt. Er hatte dabei sein Grinsen aufgesetzt, dass er immer hatte, wenn er jemandem einen Streich gespielt hatte. Ich vermute, er hat damit sein Testament gemeint.«
Er zuckte mit den Achseln.
»Vielleicht hat er in diesem seine Vaterschaft zu dir offiziell anerkannt. Wenn dem so ist, dann musst du es suchen. »
Marie fasste ihn am Arm.
»Wo?«
»Entweder in den Archiven des Pfarrers, was durchaus möglich wäre. Dann in den Büchern des Vogtes. Aber da kann sie nur ein Mensch hinterlassen haben.«
Er sah sie an.
»Der Schreiber legt alles ab. Er ist der Einzige, der sich in den Archiven wirklich auskennt. Aber ich glaube nicht, dass es dort ist. Popolius ist eine kleine Ratte, aber das weißt du sicher. Ich bin mir sicher, er weiß mehr, als er zugibt und möglicherweise auch, wer du bist. Aber er würde das Risiko nicht eingehen, es in der Vogtei zu hinterlegen, wo es jemand finden könnte. Es sei denn, der alte Steiner hat ihn angewiesen, es zu tun. Dann wäre eine Abschrift dort zu finden.«
»Glaubt ihr das?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Es ist eine Möglichkeit.«
»Und die Dritte?«
»Beim Schreiber selber. Ich weiß, er hat ein geheimes Archiv, irgendwo in seinem Haus.«
»Aber wie kommen wir dort hinein?«
Der Arzt lächelte.
»Es sollte für deinen Mann doch keine große Kunst sein, den Schreiber zu überreden, oder?«
Marie lächelte kalt. Sie stellte sich gerade vor, wie Matthias den kleinen Mann an der Gurgel hochhob.
»Wenn es einer schafft, dann mein Mann.«
Der Arzt lächelte. Marie sah ihm in die Augen.
»Aber Ihr sagt mir das doch nicht aus purer Menschenfreundlichkeit. Was erwartet Ihr als Dank?«
Der Arzt kratzte sich am Kopf.
»Marie, auch, wenn du es nicht glaubst: Ich bin kein schlechter Mensch. Was ich getan habe, das tat ich, um mehr Menschen helfen zu können. Nur mit Wissen ist es möglich, Krankheiten zu erkennen und zu heilen. Aber wenn wir beweisen können, dass du das bist, was ich vermute, dann möchte ich nur von Meister Matthias aus meiner Schuld entlassen werden. Wenn er mir sein Wort gibt, dass er niemandem etwas sagen wird, werde ich ihm glauben. Dann werde ich Rothenburg verlassen, mich an einem anderen Ort niederlassen. Ich möchte nur frei sein.«
Marie nickte.
»Ich glaube, dass ich Euch dies versprechen kann. Aber es gibt noch eine Bedingung.«
Der Arzt lachte.
»Ich weiß. Ich soll jemanden heilen. Ich kann nicht versprechen, dass es gelingt, aber ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
Er hielt Marie die rechte Hand hin.
»Hand drauf, Meisterin Wolf?«
Marie war verdutzt. So hatte noch nie jemand zu ihr gesprochen. Aber sie gab ihm die Hand.
»Hand drauf, Meister von Brümme. Und jetzt lasst uns endlich Kräuter suchen.«
Als Helga an diesem Morgen in die Backstube kam und ihr der Geruch nach Brot in die Nase stieg, wurde ihr so übel, dass sie es gerade noch in den Hinterhof schaffte, wo sie sich übergab.
Mit zitternden Knien hielt sie sich am Türrahmen fest. Was war nur los? Seit Tagen fühlte sie am Morgen diese merkwürdige Übelkeit, aber übergeben müssen hatte sie sich noch nie. Es wurde immer schlimmer.
»Was lungerst du hier herum und faulenzt?«
Die wütende Stimme ihrer Mutter schreckte das rothaarige Mädchen auf. »Wir brauchen Milch. Geh und hol welche.«
Widerwillig verzog Helga das Gesicht.
»Aber heute ist gar kein Markt!«
»Dann wirst du deinen faulen Hintern wohl zum Bauern schwingen müssen, nicht wahr?«, fauchte die Bäckerin und drückte ihrer Tochter zwei leere Milchkannen in die Hand.
»Und beeil dich, was wir haben, ist fast alle.«
Noch immer wacklig auf den Beinen und sich wie erschlagen fühlend gehorchte Helga. Widerstand hätte ohnehin keinen Sinn gehabt und wäre nur mit Schlägen gebrochen worden. Lustlos trottete sie durch die Straßen in Richtung Rödertor, das dem Bauernhof am nächsten lag. Sie hatte den Kopf so weit gesenkt, dass ihr rotes Haar das Gesicht verdeckte, und deshalb sah sie erst, dass jemand aus einer Seitengasse kam, als es zu spät war.
Greta und Helga stießen so heftig zusammen, dass beide hinfielen und die Bäckerstochter ihre Milchkannen fallen ließ.
»PASS DOCH AUF!«, schrien beide erbost, sahen sich dann verdutzt an und senkten verlegen die Köpfe. Seit Marie den Henker geheiratet hatte, hatten sie einander gemieden, aus Gründen, die zumindest Helga nicht wirklich kannte.
Als Greta den Gesichtsausdruck des anderen Mädchens sah, tat ihr die heftige Reaktion wieder leid. Sie atmete tief durch.
»Entschuldige, es war nicht so gemeint.«
Sie bemerkte, dass Helga Probleme zu haben schien, auf die Beine zu kommen, und half ihr, hob auch die Milchkannen auf. Argwöhnisch runzelte sie die Stirn.
»Was ist denn mit dir los? Bist du krank? Du bist ganz bleich!«
Helga zuckte hilflos die Achseln.
»Ach, ich weiß auch nicht … seit ein paar Tagen ist mir morgens übel und ich fühle mich immer müde, egal wie lange ich schlafe. Wenn ich Essen rieche, wird mir schlecht, aber trotzdem fühle ich mich dicker.«
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