»Und ausgerechnet jetzt, wo Matthias nicht da ist«, murmelte sie.
»Vielleicht gerade deswegen«, warf Markus ein.
»Wie meinst du das?«
Magdalena sah ihm mit großen Augen an.
»Na, wenn er nicht da ist, dann ist die Gefahr für den Mörder wesentlich kleiner, oder?«
»Du meinst, Matthias würde ihn finden?«
Markus nickte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas gab, was sein Lehrherr nicht schaffte.
»Ja, das denke ich.«
Magdalena kratzte sich am Kopf. Der Junge liebte seinen Meister, das sah man. Aber übertrieb er nicht? Auf der anderen Seite … wäre es denkbar, dass auch dieses Verbrechen in einem Zusammenhang mit den anderen Vorfällen stand? Und war es nicht seltsam, dass ausgerechnet jetzt auch der Chirurg, der sich bestens auskannte, nicht hier war?
»Aber wir können jetzt nichts tun«, sagte sie zu Markus.
»Doch!«, erwiderte dieser. »Ich werde seine Augen sein, seine Ohren. Ich werde alles Sehen und Hören, was er wissen muss.«
Mit diesen Worten rannte er wieder aus der Küche.
Magdalena sah ihm nach.
»Was hat das zu bedeuten?«, murmelte sie nachdenklich.
Nach der unruhigen Nacht schlief Marie an der Seite ihres Mannes bis zum frühen Abend. Niemand störte sie und die junge Frau erwachte erst, als der Geruch nach Abendessen durchs Haus zog. Vorsichtig stand sie auf. Matthias regte sich nicht einmal, atmete weiterhin tief und ruhig. Der Sud, den sie ihm auf Nikolaus von Brümmes Rat gegeben hatte, machte müde und sorgte dafür, dass seine Wunden schneller heilten.
Als sie ihn so schlafend betrachtete, liebte Marie ihren Mann mehr als je zuvor. Es tat ihr noch immer leid, dass sie ihm mit ihrem Misstrauen so weh getan hatte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, störte ihn dann aber nicht weiter und verließ leise das Zimmer.
Aus der Gaststube hörte Marie schon auf der Treppe Stimmengewirr, aber sie verstand erst, worum es ging, als sie an der Tür war. Natürlich konnten die Männer über nichts anderes reden als die fünf Wölfe, mit deren Häutung die Knechte heute den ganzen Tag beschäftigt gewesen waren.
»Habt ihr gesehen, wie riesig der Leitwolf ist? Er hat solche Zähne!«
Ein Zahn von einer Länge wurde angezeigt, der nicht einmal im Maul eines Löwen Platz gefunden hätte.
»Und ganz allein hat er sie alle erledigt!« Der Ausspruch war von einem der Soldaten gekommen. »Der Henker muss wirklich Kräfte wie ein Bär haben … ach, was red ich … zwei Bären!«
Als Marie in den Raum trat, wandten sich ihr alle zu, fragten wie aus einem Mund:
»Wie geht es ihm?«
Die Besorgnis der Männer rührte Marie - wenn sie daran dachte, wie Matthias in der Stadt behandelt wurde, war dies eine wahre Freude. Sie wusste, dass der Henker in ihren Augen eine Heldentat begangen hatte, als er das Wolfsrudel alleine besiegt hatte. Sie kannten ja seinen Beweggrund nicht, und Marie hatte nicht vor, es ihnen zu verraten. Sie lächelte.
»Es geht ihm gut, er schläft.«
»Gut so«, brummte Nikolaus von Brümme zufrieden. »Er braucht den Schlaf, um wieder gesund zu werden. Du solltest ihn nicht wecken, bevor er von selbst aufwacht.«
Während des gesamten Abendessens war einzig Matthias´ Kampf gegen die Wölfe Thema, und obwohl keiner dabei gewesen war, überboten die Männer sich gegenseitig mit Geschichten, wie es wohl gewesen sein konnte. Marie schmunzelte in sich hinein. Sie konnte sich jetzt schon vorstellen, wie sie nach Matthias´ Genesung wie kleine Kinder um ihn herumsitzen und sich erzählen lassen würden, wie er die Tiere erlegt hatte.
Mitten beim Essen wandelte sich jedoch plötzlich das Gesprächsthema.
»Müssen wir jetzt, da die Wölfe erlegt sind, eigentlich wieder nach Rothenburg zurück?«
Er hörte sich nicht begeistert an. Marie war klar, dass es auch den Männern hier in der Natur gefiel und dass es ihnen nichts ausmachte, einmal keine Wachdienste schieben zu müssen.
»Auf keinen Fall!«, empörte Lotte sich sofort. »Erst müssen wir abwarten, ob nicht noch genug von den Biestern übrig bleiben, um wieder unser Vieh zu stehlen. Außerdem braucht unser Wolfsjäger da oben noch eine gewisse Zeit, bis er sich erholt hat.«
»Das sehe ich genauso«, mischte sich Nikolaus von Brümme ein. »Bevor die Wunden nicht verheilt sind, ist an die Rückreise nicht zu denken. Zumal ich erst wieder einen Fuß in diesen von Banditen verseuchten Wald setze, wenn Meister Wolf wieder völlig genesen und kräftig genug ist.«
Marie entspannte sich. Ihr gefiel der Gedanke, noch eine Weile hierzubleiben. Sie hoffte, dass sie und Matthias ein wenig Zeit füreinander finden würden, ganz ungestört und ohne die Gefahren der Stadt. Hier waren sie sicher.
»Außerdem muss ich noch die Kräuter suchen, über die Meister Wolf mit mir gesprochen hat«, riss die Stimme des Chirurgen Marie aus ihren Gedanken. »Ich werde wohl heute Abend losgehen und sie pflücken. Angeblich soll ihre Heilkraft am besten sein, wenn man sie in der Dämmerung sammelt.«
Er lachte.
»Sicher Aberglaube, aber was kann es schaden?«
Maries Frage kam kurz entschlossen und aus dem Bauch heraus. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch begleite? Ich würde gern mehr über die Pflanzen lernen.«
Freudig überrascht von Maries Interesse nickte der Chirurg.
»Natürlich, gerne. Komm nur mit.«
Wenig später, nachdem Marie sich noch einmal vergewissert hatte, dass Matthias tief und fest schlief, streifte sie mit Nikolaus von Brümme an dem kleinen Bach entlang über die Obstwiesen. Die Grillen zirpten und Glühwürmchen schwirrten um sie herum. Marie dachte, dass sie unbedingt mit Matthias einen Spaziergang machen musste, sobald seine Verletzungen etwas geheilt waren. Es war ein wirklich romantisches Fleckchen.
Nikolaus hatte Marie beschrieben, wie die Pflanzen aussahen, nach denen er suchte - Lungenkraut und Bibernelle - und sie bemühte sich redlich, die richtigen zu finden, wenn sie auch eigentlich ganz andere Pläne hatte.
»Ihr schätzt meinen Mann sehr, nicht wahr?«, wollte sie unverfänglich wissen.
»Freilich …«, antwortete Nikolaus, ohne seine Suche zu unterbrechen und ohne überrascht zu klingen. »Er weiß mehr über den Körper der Menschen, als die meisten der sogenannten Ärzte das von sich behaupten können. Außerdem ist er klug und besonnen. Und er kann richtiges Recht und Unrecht von dem unterscheiden, das uns aufgezwungen wird. Ja, ich schätze ihn sehr.«
Sein Kommentar über richtiges Recht und Unrecht von Falschem ließ Marie aufhorchen.
»Würdet Ihr seinem Urteil trauen, wenn es nicht der öffentlichen Meinung entspräche?«, wollte sie wissen und hoffte dabei, sich nicht verdächtig zu machen.
Nikolaus von Brümme schmunzelte, bückte sich und schnitt eine weißblühende Bibernelle ab.
»Ich würde seinem Urteil auch dann noch trauen, wenn es nicht einmal der Meinung des Vogtes, des Herzogs oder des Papstes entspräche.«
Marie nickte zufrieden und lenkte dann das Thema auf die Kräuter und ob er glaubte, dass sie Magdalena würden helfen können. Sie hatte das Gefühl, einen weiteren Verbündeten gefunden zu haben.
Von Brümme musterte Marie immer wieder von der Seite. Er ahnte, dass sie ihm etwas mitteilen wollte, aber er wusste nicht, was es war.
»Marie, darf ich dich auch etwas fragen?«
Sie warf ihm einen Blick zu.
»Ja, sicher.«
Was … was hast du gedacht, als der Henker, statt deinen Kopf zu nehmen, um deine Hand gebeten hat?«
Marie richtete sich auf. Sie war sich nicht sicher, was der Chirurg mit dieser Frage bezweckte. Sie seufzte.
»Ja, was habe ich gedacht? Ich konnte eigentlich überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen. In der einen Sekunde habe ich mich selber gesehen, wie ich ohne Kopf auf dem schmutzigen, blutüberströmten Boden lag. In der nächsten Sekunde sah ich mich an der Seite des Henkers. Ich war mir nicht sicher, welches Schicksal das bessere wäre.«
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