»Nun, Mr. Gordon, ich denke, ich kann auch für meinen Bruder sprechen. Sie sind uns selbstverständlich willkommen.«
Francis wandte sich noch einmal zu Sarah.
»Habt vielen Dank, Miss Sarah. Ich freue mich darauf, unser Gespräch zu vertiefen.«
»Es war mir eine Ehre, Mr. Gordon«, erwiderte sie. Sarah hatte sofort verstanden, was Francis mit der förmlichen Anrede beabsichtigte. Er wollte vermeiden, dass vor ihrer Tante der Eindruck von zu viel Intimität entstand. Sie würden also die Vertrautheit, vorerst, nur unter vier Augen genießen können, bis sie Margret so weit hatten, dass diese damit einverstanden war.
»Ich muss jetzt zu meinen Kameraden, aber ich hoffe auf einen letzten Tanz, Miss Sarah.«
Nicht im Traum wäre es Sarah eingefallen, da nein zu sagen! Als das junge Paar sich nur wenig später gemeinsam auf der Tanzfläche drehte, zog es alle Blicke auf sich, aber nicht einmal das bemerkten die beiden. Sie waren völlig ineinander versunken, sahen sich in die Augen und lächelten glücklich. Sarah folgte ganz Francis‹ Führung und hatte das erste Mal überhaupt das Gefühl, sie ihm nicht nur für diesen Tanz, sondern vielleicht für ihr ganzes Leben überlassen zu können. Als die Musik endete und Francis sich mit einem weiteren Handkuss und einem Versprechen auf ein Wiedersehen von ihr verabschiedete, klopfte Sarahs Herz bis zum Hals. Kein Zweifel, sie hatte sich verliebt. Verträumt sah sie den Kadetten hinterher, als sie in das Licht des Mondes getaucht den Garten verließen. An der Tür zum Haus drehte Francis sich noch einmal um und winkte Sarah zu. Sie winkte zurück.
»Wie schade, dass sie schon gehen, die Zeit ist so schnell vergangen!«
Elizabeths wehmütiges Seufzen direkt neben ihr ließ Sarah erschrocken herumfahren - sie hatte beinahe vergessen, dass noch andere Gäste anwesend waren. Die pummelige Brünette hatte sich keine Mühe gegeben, ihre Aufmachung in Ordnung zu bringen. Die Frisur war immer noch durcheinander und ein Träger ihres Kleides war zerrissen. Das erinnerte Sarah wieder daran, was sie vorhin beobachtet hatte, und sie stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.
»Übrigens, Elizabeth, schämst du dich nicht? Wie kannst du dich einem Mann hingeben, den du gerade erst getroffen hast?!«
Elizabeth blinzelte überrascht.
»Spiel doch nicht die heilige Maria, wenn wir nicht gekommen wären, dann hättest du es doch mit deinem Kerl ganz genau so getrieben!«
Sarah stand der Mund offen.
»WAS sagst du da? Nie und nimmer hätte ich irgendetwas mit ihm getan, egal, wie gern ich ihn mag! Ich werde erst in meiner Hochzeitsnacht bei einem Mann liegen!«
Elizabeth gluckste amüsiert.
»Na, dann brauchst du aber einen Mann mit sehr viel Geduld … Männer warten nicht gerne.«
Die Rothaarige verzog das Gesicht.
»Bei dir brauchen sie es ja offensichtlich auch nicht. Und trotzdem sehe ich an deinem Finger trotz aller Freizügigkeit keinen Ring. Wer will schon ein Pferd, das bereits von zu vielen anderen geritten wurde!«
Die Umstehenden konnten nur mit Mühe das Lachen unterdrücken, Elizabeth wurde hochrot und stürmte aus dem Garten. Margret hatte ebenfalls mitgehört und sah höchst zufrieden aus. Sie wusste nicht, dass Sarahs Einstellung viel weniger von ihrer streng katholischen Erziehung stammte als daher, dass sie ihren Vater mehr als einmal zu vornehmen Töchtern hatte begleiten müssen, die nicht gewartet hatten, und deswegen nicht nur schwanger, sondern auch noch vom Verursacher verlassen worden waren. Es war Andrew O’Leary zuwider, den jungen Frauen auf Geheiß ihrer Eltern bei der »Lösung« dieses Problems zu helfen, aber er wusste, tat er es nicht, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Mädchen sich in die Themse stürzten. Wenn eine junge Frau plötzlich und tragisch an einem geheimnisvollen Fieber verstarb, war die Ursache dieses Fiebers weit weniger häufig ein Mysterium, als die vornehmen Eltern behaupteten! Sarah hatte nicht vor, so zu enden, auch wenn sie nicht glaubte, dass Francis Gordon sie je in eine solche Situation bringen würde. Als sie in dieser Nacht zu Bett ging, konnte sie an nichts anderes denken als an ihn und wann sie ihn wiedersehen könnte.
Teil 1
London, Mai 1887
1. Kapitel
Sarah war aufgeregt. Wie sie erfahren hatte, sollte bald das Schiff, auf dem Francis seit über achtzehn Monaten seinen Dienst tat, wieder einlaufen. Nach den letzten Berichten war sie schon auf dem Weg in den Ärmelkanal. Bald würde sie ihren Geliebten wieder sehen und in die Arme schließen können.
»Und dann ist bald Hochzeit«, murmelte die Rothaarige.
»Sarah Florence O´Leary! Was faselst du da wieder?«
Ihre Tante Margret stand auf einmal hinter ihr. Aber als Sarah sie ansah, wusste sie, dass es nicht böse gemeint war. Im Gegenteil! Ihre Tante war mit der Wahl des Bräutigams mehr als zufrieden. Auch wenn sie es nicht zugab, sie freute sich bereits auf die Hochzeitsvorbereitungen.
»Ach Tante Margret. Er war so lange unterwegs.« Sie ließ sich in einen Sessel fallen. »Denkst du, er liebt mich noch? Oder hat er mich am Ende gar vergessen? Was meinst du?«
Margret trat zu ihr und strich ihr über die Haare.
»Kindchen, wenn er dich nicht mehr liebt, dann sollte er besser lernen, wie man sich gegen mich zur Wehr setzt.«
Sarah musste lachen. Sie stellte sich vor, wie ihre Tante hinter Francis herrannte, mit der Bratpfanne in der Hand auf ihn eindreschend. Doch schnell wurde sie wieder ernst.
»Ich habe Angst, Tante. Was, wenn er nicht mehr daran denkt, was er mir versprochen hat?«
Sie erinnerte sich an jenen abend im Sommer 1885. Er hatte ihr eröffnet, dass er auf einem Schoner der Marine auf große Fahrt gehen müsse. Die Ziele waren Indien, Hongkong und Australien. Von dort aus wieder zurück. Sarah hatte sich eine Karte angesehen und war erschrocken gewesen über die riesigen Wassermassen, die ihr Geliebter überqueren musste. Aber er hatte noch eine Überraschung. Aus dem Uniformrock, den er getragen hatte, zog er eine kleine Schachtel hervor.
Dann hatte er sich vor sie gekniet, ihr die Schachtel dargereicht und sie geöffnet. Sarah hatte vor Schreck keine Luft mehr bekommen, als sie den Ring mit einem kleinen Diamanten gesehen hatte.
»Sarah Florence O´Leary. Möchtest du meine Frau werden?«
Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen, die Tränen waren nur so aus ihren Augen gestürzt.
»Francis Gordon …«, hatte sie geflüstert. »Du bist ein verrückter Kerl. Aber ich liebe dich! Und ja, ich will.«
Sie hatte sich umgesehen und noch schnell hinzugefügt: »Aber du musst meinen Vater fragen. Ich bin noch nicht volljährig!«
»Ich werde ihn fragen. Aber ich wollte erst wissen, was du sagst, bevor ich zu ihm gehe.«
Sarah war verblüfft gewesen. Francis war, trotz seiner manchmal steifen Art, recht progressiv. Normalerweise hätte er nur ihren Vater fragen müssen. Hätte er sein Einverständnis gegeben, dann wäre sie vielleicht gefragt worden.
Sie hatte sich vorgebeugt, ihn geküsst. Und er hatte den Kuss erwidert. Doch dieses Mal nicht so unschuldig, so sanft wie sonst. Er hatte sie drängender geküsst, mit Leidenschaft. Und Sarah hatte verstanden, was Elizabeth gemeint hatte. Sie hatte gespürt, wie ihr Widerstand schmolz. Doch dann, als sie seine Hand auf ihrem Knie gespürt hatte, wie sie sich langsam nach oben getastet hatte, da war sie erschrocken gewesen und hatte ihn von sich geschoben.
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