Auch Francis sah das Pferd an und lachte.
»Das Pferd passt zu Ihnen, Miss.«
Er hatte entschieden, dass »Miss« die bessere Anrede war.
Sarah stemmte die Arme in die Hüften.
»Ach, wieso?«
»Weil es, wie Sie, einen eigenen Willen hat und diesen durchsetzen will.«
»Woher wollen Sie das wissen, Mister …?«
»Entschuldigen Sie, Miss.« Er verbeugte sich. »Francis Gordon, Miss …?«
»O´Leary. Sarah Florence O´Leary.«
»O´Leary? Das klingt irisch.«
Sarah wurde wütend.
»Ja, Mister! Das klingt nicht nur so, das ist irisch.«
Francis hob die Hände.
»Langsam, Miss. Das war nicht negativ gemeint.«
Er ging um Sarah herum und betrachtete Sunchaser.
»Schade, dass mein Bruder nicht hier ist. Er kennt sich mit Pferden besser aus.« Er hob die Beine des Tieres an, betastete die Knöchel. »Es scheint alles in Ordnung zu sein«, stellte er fest.
Sarah musterte den Mann jetzt genauer. Er war groß, schlank und schien kräftig zu sein.
»Sind Sie bei der Navy, Sir?«
Francis lachte.
»Sieht man das? In der Tat, Miss, ich bin zurzeit im Royal Naval College.« Er zeigte in Richtung Themse. Sarah nickte. Ein steifärschiger Navymensch, dachte sie.
»Nun, Mister Gordon, ich danke Ihnen für die Rettung.«
Sie schwang sich auf Sunchaser und drückte ihm die Fersen in die Flanken. In wildem Galopp ging es zurück. Francis sah ihr nachdenklich nach.
»In der Tat, ein bemerkenswertes Mädchen.«
Als Sarah, mit Grasflecken bedeckt und leicht humpelnd, ins Haus zurückkam, war es unvermeidlich, Margret in die Arme zu laufen.
»SARAH!«, rief sie empört. »Hast du etwa wieder dieses Teufelstier geritten? Du wirst dir eines Tages noch den Hals brechen!«
Die Rothaarige zuckte die Schultern.
»Besser ein schneller Genickbruch als vor Langeweile beim Sticken zu sterben!«
»Und Respekt vor Älteren fehlt dir auch völlig!« Margret war puterrot im Gesicht geworden und fuchtelte aufgeregt mit dem erhobenen Zeigefinger. »Komplett verdorben bist du, widerborstig, vorlaut, ungehorsam … du wirst niemals einen Mann finden, der dich heiratet!«
Unwillkürlich wanderten Sarahs Gedanken zu Francis Gordon. Er hatte sie nur angesehen und gleich bemerkt, dass sie »ihren eigenen Willen« besaß. War es wirklich so offensichtlich? Aber war es wirklich etwas Schlechtes? Er hatte es nicht so gesagt, als gefiele es ihm nicht.
In dem Moment kam Andrew O’Leary aus seinem Arbeitszimmer und unterbrach Margrets Tirade, die ohne Zweifel noch mindestens eine halbe Stunde angedauert hätte, indem er sich ruhig an seine Tochter wandte.
»Sarah, bitte wasch dich und komm dann zum Frühstück. Danach habe ich etwas mit dir zu bereden!«
Margret war in der Tat mehr als nur wütend. In Sarah sah sie jeden Tag ihre verstorbene Schwester. Nicht nur das rote Haar hatte sie von ihr geerbt, auch das Temperament war das ihrer toten Mutter. Genau wie Sarah war Victoria immer ein Hitzkopf gewesen. Immer musste sie über ihre Grenzen gehen. Und dann die Heirat mit diesem irischen Arzt. Margret hatte nie verstehen können, warum ihr Vater eingewilligt hatte. Sie schüttelte den Kopf und ging wutschnaubend in die Küche, um sich an den Dienstboten abzureagieren.
Als Andrew die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter Sarah schloss, rasten die Gedanken nur so durch ihren Kopf. Was konnte er wollen? Hatte er beschlossen, sie mit irgendeinem Schnösel zu verheiraten, jetzt, da klar war, dass sie nicht Medizin studieren konnte? Das bedeutete immerhin, dass sie nicht in der Lage sein würde, sich auf Dauer selbst zu versorgen, denn auch das Haus, das sie erben würde, musste unterhalten werden.
Unruhig blieb sie vor dem schweren Schreibtisch ihres Vaters stehen und knetete ihre Hände, versuchte, aus Andrews Gesichtsausdruck zu lesen.
Er wirkte nicht streng, nur zufrieden, und sah sie an.
»Sarah, ich habe beschlossen, dich selbst auszubilden. Du hast mir schon immer geholfen, und viele Patienten, besonders weibliche, fühlen sich in der Gegenwart einer Frau wohler als bei einem männlichen Arzt. Du wirst die Aufgaben, die ich dir bisher übertragen habe, weiterhin ausführen, aber ich werde dir mehr Einblick in die Materie geben, dich intensiver ausbilden. Nicht nur in der Praxis, auch in der Theorie. Du wirst zwar nie als Ärztin praktizieren können, aber ich werde meine Augen offen halten. Vielleicht finde ich ja einen jungen Arzt, der deine Unterstützung zu schätzen weiß, wenn ich mich zur Ruhe setze.«
Sarah starrte ihn an, fassungslos vor Freude. Ihre Erstarrung löste sich nur langsam, und sie strahlte.
»Wirklich? Das willst du tun?«
Das Leuchten in ihrem Gesicht machte Andrew O’Leary erneut bewusst, wofür er eigentlich lebte, und er nickte lachend.
»Natürlich. Ein Talent wie deines zu verschwenden wäre eine tödliche Sünde!«
Mit einem Freudenschrei fiel Sarah ihrem Vater um den Hals, bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
»Danke, Papa! Vielen, vielen Dank!«
Es machte sie stolz, dass er sie für gut hielt. Er drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Nichts zu danken. Aber vorerst musst du dir um etwas anderes Gedanken machen.«
Er grinste sie an, fuhr fort: »Nämlich was du auf unserem kleinen Ball anziehen wirst. Im Gegenzug dazu, dass ich dich ausbilde, erwarte ich allerdings, dass du dich zumindest ein wenig bemühst, eine Dame zu sein … damit Margret etwas weniger Grund hat, Tag und Nacht zu meckern!«
Mit einem Kichern und Augenzwinkern nickte Sarah.
»Ich werde es zumindest versuchen!«
Zwei Wochen später war es so weit. Sarah stand in einem herrlichen Kleid in der Diele des Hauses und empfing ihre Gäste. Alle ihre Freundinnen kamen. Die pummelige Elisabeth, deren Brüste das Mieder zu sprengen drohten, die pferdegesichtige Penelope, die magere Harriet sowie die hübschen Zwillinge des Earl of Combuct. Sarah war nervös. Ihr Vater hatte gesagt, er habe einige sehr nette junge Herren eingeladen. Doch wen, das wusste sie nicht.
Margret hingegen achtete genau auf alles, was geschah. Die Musiker hatten eine kleine Bühne im Garten, es gab Punsch und Limonade. Dazu hatte Margret ein Diner bereitet, das sich mit der Küche des Palastes messen konnte.
»Wo bleiben denn die Männer?«, fragte Elisabeth. Sie war, selbst für Sarahs Geschmack, zu kokett. Sie zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht.«
Doch wie auf ein Stichwort hin klopfte es an der Tür. Margret öffnete, sie war viel zu sehr auf die Ehre der Mädchen bedacht, als das sie dies jemand anderes hätte tun lassen.
Vor der Tür stand ein großgewachsener Mann, der sich seine Mütze unter den Arm klemmte, Margrets Hand ergriff und einen formvollendeten Handkuss andeutete.
»Gnädige Frau, wir sind stolz und glücklich, in dieses wunderbare Haus eingeladen worden zu sein.«
Margret, die erst eine Schimpfkanonade loslassen wollte, errötete. So galant war sie noch nie begrüßt worden.
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