1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Ganz schlimm wurde es, wenn die Krankheit das Gehirn erreichte. Die Betroffenen wurden wahnsinnig, inkontinent, erblindeten, wurden gelähmt. Eine wirklich wirksame Behandlung gab es nicht, obwohl viele Mediziner fieberhaft danach suchten. Noch war die gängige Methode, die Patienten großflächig mit Quecksilber einzustreichen. Ob es wirklich half, konnte keiner so recht sagen - am Ende war es egal, ob die Patienten an der Syphilis oder an einer Quecksilbervergiftung starben. Sicher war nur eins - Sarah konnte ihre Pläne mit Francis begraben.
»Sie wissen, was das bedeutet, richtig?«
Die Stimme ihres Vaters riss Sarah aus ihrer Erstarrung, und sie schlich näher an den Türspalt, um besser zu hören. Wie in aller Welt konnte er sich angesteckt haben? Hatte er einem infizierten Kameraden geholfen?
»Sie werden meine Tochter auf keinen Fall heiraten können. Sie würden sie sofort mit dieser Seuche anstecken und eure Kinder würden damit geboren! Ich übernehme gern Ihre Behandlung, aber Sarah ist ab sofort für Sie tabu! Wie haben Sie sich dieses Übel zugezogen? Will ich es überhaupt wissen?«
Sarah wollte ins Zimmer stürzen und aufbegehren, versichern, dass man bestimmt eine Heilung finden könne und dass sie trotzdem Francis‹ Frau sein wollte, als sie seine Antwort hörte.
»Es widerstrebt mir, es zuzugeben … ich schäme mich vor mir selbst, vor Ihnen, und ganz besonders vor meiner Verlobten … aber Sie wissen vielleicht, wie das Leben auf See ist! Ich habe ein Hurenhaus besucht. Dort muss ich es mir zugezogen haben.«
Von einer Sekunde auf die andere lag Sarahs ganze Welt in Scherben. Ein Hurenhaus! Ihr Verlobter hatte sie betrogen! Niemals, niemals hatte sie mit so etwas gerechnet! Es tat körperlich weh. Sarah musste sich zusammenreißen, um nicht auf die Knie zu sinken. Nach Luft schnappend taumelte sie in die Halle zurück und zog sich mit Mühe am Geländer die Treppen hinauf. Sie war gerade außer Sicht, als sie die Schritte und Unterhaltung ihres Vaters und Verlobten - wenn man ihn noch so nennen konnte! - in der Halle hörte.
»Waren Sie schon bei Ihrem Vater?«, wollte Andrew O’Leary wissen. »Weiß er Bescheid?«
»Nein,« hörte Sarah die betrübte Stimme Francis‹. »Ich bin sofort, nachdem wir anlegten, hierher gekommen.«
Sie hörte leises Rumoren, dann wieder ihren Vater.
»Gut, dann fahren wir jetzt gemeinsam zu Ihnen nach Hause und klären diese Angelegenheit.«
Die Eingangstür fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss und Sarah stand mutterseelenallein auf dem dunklen Treppenabsatz. Schluchzend sank sie auf den Boden, umklammerte mit beiden Händen das Geländer und weinte herzzerreißend. Alles war aus! Alles vorbei! Sie konnte ihre große Liebe nicht heiraten! Vielleicht würde Francis sogar bald sterben. Es brach Sarah das Herz. So sehr hatte sie sich auf seine Rückkehr gefreut, und jetzt war er unerreichbarer für sie, als er es je in Australien gewesen war.
Das Klingeln der Türglocke ließ die junge Frau zusammenfahren, und sie stand reflexartig sofort auf und ging wie in Trance die Treppen hinunter. Ihr erster Gedanke war, dass doch noch etwas bei Helen Sherman nicht in Ordnung war, und in diesem Fall musste sie sich zusammenreißen. Als sie jedoch die Tür öffnete, war es nicht James Sherman, der dort stand, sondern Susan Birch. Sie gehörte zu den Patienten aus Whitechapel, die regelmäßig zu Sarah kamen. Nur war sie noch nie hier gewesen!
»Susan,« entfuhr es Sarah überrascht, »was machst du denn hier? Wie hast du überhaupt hergefunden?«
»Hab mich durchgefragt … guten Abend, Miss Sarah!«
Susan grinste schief und eine Wolke aus Alkohol schlug Sarah entgegen, sodass sie unwillkürlich zurückweichen musste. Dank Susans Äußerem, vor allem ihren gelblichen Augäpfel, war Sarah immer klar gewesen, dass sie trank - abgesehen davon gab es in Whitechapel kaum jemanden, der das nicht tat -, aber bisher war sie bei ihren Besuchen immer nüchtern gewesen. Die Arzttochter trat zur Seite.
»Komm erstmal rein … ist etwas passiert, hast du Schmerzen? Du bist doch noch nie hierher gekommen!«
»Hab auch noch nie was so Scheußliches gehabt …«, brummte sie.
Susan wankte lallend an Sarah vorbei, pfiff anerkennend, als sie sich in der Eingangshalle umsah.
»Mein lieber Schwan, das Zimmer hier is ja größer als meine ganze Behausung!«
Sarah legte eine Hand auf die Schulter der anderen Frau, die in ihrem Alter war, aber durch mangelnde Ernährung und ständige Krankheiten zwanzig Jahre älter aussah, und schob sie behutsam in Richtung Praxis.
»Komm, wir gehen ins Arztzimmer. Was hast du denn, ich schaue es mir mal an.«
In der Eile hatte ihr Vater die Lampen in der Praxis nicht gelöscht, was Sarah erleichtert registrierte. Susan blieb mitten im Raum stehen, noch immer leicht schwankend, und dann zog sie ihren Rock hoch.
»Es juckt und ist offen, ich brauche unbedingt eine Salbe!«
Sarah starrte den mageren, schmutzigen Körper an. Scharlachrote, knotige kleine Geschwüre zogen sich am Unterleib und Bauch hinauf. Es war die Syphilis. Sarah hatte nie gefragt, wie Susan Birch ihren Lebensunterhalt verdiente, woher sie das Geld bekam, das sie abends versoff, weil es für sie keine Rolle gespielt hatte. Aber in diesem Moment war es völlig klar. Susan war eine Hure. Frauen wie Susan waren dafür verantwortlich, dass Sarahs Leben völlig ruiniert, dass ihr Glück zerstört war!
Gespannt sah Susan Sarah an.
»Nun? Hast du was dagegen?«
Sarah nickte mechanisch.
»Ich kann dir eine Salbe gegen das Jucken und Nässen geben. Aber die Krankheit selber, die geht wohl nicht mehr weg. Das kommt immer wieder. Und es ist sehr ansteckend! Susan, du darfst nicht mehr mit Männern schlafen für Geld, hörst du? Du wirst sie auch krankmachen.«
Susan stieß ein verächtliches Lachen aus.
»Miss Sarah, mach keine Witze. Soll ich vielleicht verhungern, weil irgendein alter geiler Bock, den seine Frau nicht mehr drauflässt, den Schwanz nicht in der Hose behalten kann? Die haben es doch verdient, dass sie krank werden. Ich seh so schon seit gestern abend aus, und fünf Kerle hat’s nicht gestört. Die haben nicht mal hingeschaut! Gibst du mir jetzt was gegen das Jucken?«
»Ja, ich gebe dir etwas gegen das Jucken …«
Am Morgen hatte Andrew ein Bild von sich und seiner Tochter, das vor ein paar Tagen aufgenommen worden war, in seiner Praxis aufgehängt. Der Hammer lag noch auf dem Schreibtisch.
Als Sarah ihre Umgebung wieder bewusst wahrnahm, lag Susan Birch regungslos vor ihr auf dem Boden. Ein großes, blutiges Loch klaffte in ihrer Schläfe. Verblüfft starrte Sarah auf den Hammer in ihrer Hand. Haare und Blut klebten daran. Wann hatte sie damit zugeschlagen!?
Mit einem Laut des Entsetzens wich die Arzttochter zurück und das Werkzeug fiel mit einem lauten Poltern zu Boden.
Ich habe einen Menschen umgebracht, dachte Sarah entsetzt, ich wollte immer nur helfen, und jetzt habe ich einen Menschen getötet!
Gerade wollte sie in Panik geraten, davonstürzen und ihren Vater zu Hilfe holen, als ein neuer Gedanke, kühl und distanziert, sie davon abhielt.
Was glaubst du eigentlich, wie vielen Menschen du geholfen hast, indem du diese eine dreckige Hure von ihrem Elend erlöst hast?
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