1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 »Nein danke, Dr. O´Leary. Ich hätte etwas mit Ihnen zu bereden.«
Jetzt passiert es, dachte Andrew. Heute gebe ich meine Tochter einem anderen Mann.
»Aber sicher. Geht es um Sarah?«
Der junge Mann druckste etwas herum.
»Nein. Oder doch … irgendwie schon.«
Andrew war verwirrt. Was würde das werden?
»Es ist eher … ein medizinisches Problem, weswegen ich hier bin.«
»Oh. Was kann ich für Sie tun?«
Andrew sah, wie unsicher der junge Mann war.
»Seit einiger Zeit habe ich seltsamen Ausschlag. Zuerst …«, er zeigte nach unten, »jetzt aber im Mund und am Bauch.«
Andrew stutzte. Das hörte sich nicht gut an.
»Kommen Sie, wir gehen in die Praxis.«
Er ging voraus, wusch sich gründlich die Hände.
»Zeigen Sie mal.«
Der Arzt besah sich den Ausschlag, nahm noch eine Lupe zu Hilfe. Dann musste Francis die Hosen runterlassen. Auch die Genitalien untersuchte Andrew genau. Dann seufzte er, wusch sich erneut gründlich die Hände.
»Francis, was haben Sie getan?«
»Was … was meinen Sie, Dr. O´Leary?«
Andrew sah ihn ernst an. Soeben war für ihn eine Welt zusammengebrochen und er wagte es gar nicht, sich auszumalen, was Sarah empfinden würde, wenn sie dies erführe.
»Junger Mann. Sie haben die Syphilis.«
»Herzlichen Glückwunsch, Helen!«
Sarah strahlte, als sie der erschöpften, verschwitzten Mutter den kräftig schreienden Säugling, den sie gerade notdürftig gesäubert hatte, in die Arme legte.
»Du hast einen wunderschönen, gesunden Jungen!«
Es war keine leichte Geburt gewesen - das Kind hatte verkehrt herum gelegen, Sarah hatte in die Mutter greifen und es drehen müssen. Sie selbst war blutverschmiert bis an die Ellenbogen und erhob sich, um sich zu waschen und mit der mitgebrachten Phenollösung zu desinfizieren. Das machte längst noch nicht jeder Arzt, aber Andrew O’Leary schwor darauf.
»Ist es jetzt vorbei?«
James streckte vorsichtig den Kopf aus der Küche ins Schlafzimmer. Er war ein wenig blass, hatte Sarah aber sehr gut unterstützt, indem er immer wieder frisches heißes Wasser und saubere Tücher gebracht hatte. Sie lächelte ihm zu.
»Ja, mein fleißiger Helfer. Komm ruhig herein und schau dir dein kleines Brüderchen an!«
Der Junge kam eifrig heran und setzte sich staunend neben seine Mutter aufs Bett. Helen hielt ihr Baby bereits im Arm und ließ es an der Brust saugen. Sie schluchzte leise.
Sarah runzelte die Stirn.
»Helen, das sind aber keine Freudentränen, oder?«
»Doch …«, schniefte die Frau mit den langen schwarzen Haaren, schüttelte dann jedoch betrübt den Kopf.
»Nein … nicht nur. Ach Miss Sarah, ich weiß nicht, wie ich das machen soll mit zwei Kindern. Ich weiß nicht, wie ich sie ernähren soll. Ich habe die ganze Zeit an den Docks Fische ausgeweidet und James hat mitgeholfen, aber den Kleinen kann ich dorthin nicht mitnehmen.«
Sarah presste die Lippen zusammen, packte ihre Sachen in die Tasche und erwiderte dann:
»Ich kann dir nichts versprechen, Helen, aber ich werde meinen Vater fragen, ob du bei uns im Haus arbeiten kannst … zumindest eine Zeitlang.«
Helens Kopf schnellte in Sarahs Richtung.
»Wirklich? Miss Sarah, das würden Sie für mich tun?«
Die Rothaarige nickte.
»Wir haben ja nichts zu verlieren! Aber jetzt muss ich nach Hause. Die Blutung hat aufgehört, es geht dir und dem Kleinen gut«, und mit einem Blick auf James fügte sie hinzu: »Und Unterstützung hast du ja.«
Sie strich dem tapferen Jungen über den Kopf.
»Morgen komme ich vorbei und sehe nach euch. Bis dann weiss ich auch sicher, ob wir Arbeit für dich haben.«
»Danke, Miss Sarah! Vielen Dank!«
Die strahlenden Augen ihrer Patientin versetzten Sarah noch in Zufriedenheit, als sie vor dem schäbigen Haus in den Tower Hamlets zu Albert in die Kutsche stieg. Wenn sie in den ärmeren Viertel Londons unterwegs war, bestand Andrew darauf, dass sie nicht alleine ging, und Sarah hatte nie protestiert. In den Arbeitervierteln, besonders so nah an den Docklands, war es gefährlich. Menschen wurden praktisch im Minutentakt überfallen und ausgeraubt, oft sogar ermordet, und meist scherte sich niemand darum.
Es war mittlerweile völlig dunkel geworden, nur noch die Gaslaternen erhellten die Straßen und wieder einmal hing schwerer Nebel zwischen den Häusern.
Die Anspannung in Sarah ließ nach, als die Kutsche über die Themsebrücke in Richtung Greenwich rumpelte und sie nickte ein. Erst als die Kutsche mit einem Ruck vor dem heimischen Stall zum Stehen kam, schreckte sie wieder auf.
»Wir sind da, Miss Sarah!«
Albert grinste sie an.
»Brauchen Sie mich heute noch, oder kann ich Feierabend machen, wenn ich das Pferd versorgt habe?«
Schmunzelnd sprang Sarah von der Kutsche.
»Du kannst ruhig in den Pub gehen, Albert, mein Vater ist jetzt sicherlich zu Hause. Wenn noch etwas sein sollte, werden wir gemeinsam gehen.«
»Danke, Miss Sarah!«
Albert verbeugte sich und zog höflich seinen Hut.
»Ich wünsche eine gute Nacht.«
»Dir auch, Albert!«
Noch beschwingt von der erfolgreichen Entbindung ging Sarah ins Haus und lief durch die Eingangshalle. Sie wollte gleich ihrem Vater alles berichten und ihn um eine Anstellung für Helen bitten.
Auf halbem Wege hörte sie schon seine Stimme aus der Praxis im hinteren Teil des Hauses - und noch eine Zweite. Dass so spät noch ein Patient im Haus war, war ungewöhnlich. Notfälle waren selten in der Lage, noch hierher zu kommen. Doch es war eindeutig jemand bei Andrew … und die Stimme kam ihr bekannt vor. Neugierig hielt Sarah den Atem an. Hatte sie sich getäuscht? Oder war ihr Verlobter bereits zurück? Ihr Herz begann so laut zu schlagen, dass sie glaubte, ihr Vater und sein Besucher müssten es hören können. Lautlos schlich sie näher und sperrte die Ohren auf. Sie wollte nicht kopflos ins Zimmer stürzen, um dann festzustellen, dass die Stimme nur der ihres Geliebten ähnelte.
Noch konnte sie nicht verstehen, was gesagt wurde, hörte nur Gemurmel und vermutete, dass ihr Vater Anweisungen zur Untersuchung gab. Jetzt jedoch erkannte sie ganz deutlich die Stimme von Francis Gordon.
Gerade wollte Sarah freudestrahlend die Tür öffnen und ihrem lange vermissten Verlobten um den Hals fallen, als sie die Stimme ihres Vaters hörte und auch verstand, was er sagte:
»Junger Mann. Sie haben die Syphilis.«
Sarah stand zur Salzsäule erstarrt. Hatte sie richtig gehört? Syphilis! Das war beinahe so schlimm wie die Pest! Eigentlich genauso schlimm, genauso ansteckend, nur lebten die Erkrankten sehr viel länger und niemand konnte sagen, wie sich die Krankheit letzten Endes äußern würde.
Sie hatte Menschen gesehen, die seit Jahrzehnten infiziert waren und nur gelegentlich einen widerlichen nässenden und entstellenden Ausschlag bekamen, während anderen das komplette Gesicht von den Geschwüren zerfressen worden war. Klaffende Löcher, wo einst Nasen, Augen und Lippen gewesen waren.
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