1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Sarah hatte sich schon zur Tür gedreht, aber nun hielt sie inne und wandte sich wieder zu der Toten um. Susans Gesichtsausdruck wirkte ganz friedlich, entspannt, beinahe glücklich. Sie hatte den Hammer nicht kommen sehen, hatte keine Sekunde gewusst, dass sie gleich sterben würde. Sie hatte ein erbärmliches, würdeloses Leben in Whitechapel gelebt. Eigentlich war es eine Gnade, ein Dienst der Barmherzigkeit gewesen, sie von ihrer jämmerlichen Existenz zu befreien.
Die Krankheit wäre schnell fortgeschritten unter ihren Lebensumständen, hätte sie entstellt, vielleicht unter unsäglichen Schmerzen getötet. Und in der Zwischenzeit hätte sie immer mehr und mehr Menschen angesteckt, wie ein Rattenfloh!
Alleine heute hatte sie fünf Männer auf dem Gewissen!
»Es war wahrscheinlich das Beste so«, murmelte Sarah vor sich hin.
Einen Augenblick noch wurde sie nervös, lauschte unruhig, ob jemand im Haus aufmerksam geworden war, aber es war alles still. Die Mägde schliefen schon, Margret war zum Bridge gegangen und ihr Vater wäre sicherlich noch eine Weile bei den Gordons. Sie hatte Zeit, aber nicht unendlich viel.
Sarah griff nach der Tasche mit den Operationsinstrumenten ihres Vaters. Dann bückte sie sich und griff die Tote bei den Füßen, zerrte sie aus der Praxis. Im Gerätehaus des Gärtners würde sie niemand suchen. Und außerdem gab es dort eine Säge.
Francis Gordon und Andrew O´Leary saßen unterdessen im Haus der Gordons. Der Vater des jungen Mannes hatte, nach der wenig taktvollen Eröffnung durch den Arzt, drei Gläser Gin hintereinander in sich gekippt, die Mutter saß fassungslos am Tisch und weinte lautlos.
»Wie konntest du nur, Junge?«, fragte sie leise. Sein Vater brummte nur.
Andrew O´Leary ahnte, dass er mit dieser Nachricht nicht nur das Leben des jungen Mannes völlig verändert hatte, sondern das der ganzen Familie. Eben noch stand die Zukunft ihres Sohnes golden und strahlend vor ihnen. Offizier in der Navy, eine Ehe mit einer wunderschönen, gebildeten Frau. Und jetzt war alles zerstört.
Die Navy würde ihn, sobald es bekannt wurde, ausmustern. Es war undenkbar, dass ein an Syphilis erkrankter Mann Offizier werden würde. Wenn er Glück hatte, würde er vielleicht ehrenhaft entlassen. Aber dazu würde Henry Gordon alle seine Beziehungen spielen lassen müssen. Erneut, wie er dachte.
Er schüttete den vierten Gin in sich hinein.
»Verdammt! Erst Horatio und jetzt du!«
Francis starrte seinen Vater an.
»Was meinst du damit? Was ist mit meinem Bruder?«
»Stiefbruder«, brummte sein Vater. »Oh nein, er ist nicht so dämlich wie du gewesen. Bei ihm hätte ich noch eher damit gerechnet. Aber nein, ausgerechnet MEIN Sohn fickt eine Hafennutte und unterschreibt sein Todesurteil. An uns hast du wohl dabei nicht gedacht?«
Langsam geriet Henry Gordon in Rage. Diesen Skandal konnte er sich nicht leisten. Es hieß hinter vorgehaltener Hand, dass er im nächsten Jahr zum obersten Vorstand der Bank berufen werden sollte. Das konnte er nun wohl auch vergessen.
»Vater, was ist mit Horatio?«
Auch, wenn Horatio nur sein Stiefbruder war, so sorgte sich Francis um ihn. Die beiden Brüder hätten unterschiedlicher nicht sein können. Aber das lag wohl zum Teil auch daran, dass sie verschiedene Väter hatten. Horatio war der ältere der beiden. Sein Vater war, als er zwei gewesen war, an einer Lungenentzündung gestorben. Henry hatte die Witwe bei einem Dinner kennengelernt und nach einem Jahr des Hofierens geheiratet. Daraus war Francis entstanden.
»Dein Bruder, der hat sich ausgerechnet die Frau seines Vorgesetzten ausgesucht. Als er die beiden erwischte, musste Horatio das Kavallerieregiment umgehend verlassen. Nur mit viel Einsatz konnte ich verhindern, dass man ihn unehrenhaft entließ.«
Er kippte einen weiteren Gin in sich hinein. Andrew stand auf und nahm ihm die Flasche weg.
»Henry, ich denke, es ist genug!«
»GENUG??«, brüllte Henry Gordon. »Ihr verdammten Quacksalber sagt uns immer, wann es genug ist. Trinkt nicht! Raucht nicht! Esst nicht zu fett! Tut dies nicht, tut jenes nicht. Aber wenn jemand wirklich krank ist, dann streicht ihr die Segel!«
Er stand auf, ging um den Tisch herum und gab seinem Sohn eine Ohrfeige, die diesen aus dem Sessel warf.
»Ich sollte dich totschlagen! Dann würde uns das Elend erspart, dich langsam krepieren zu sehen!«
Er stampfte aus dem Zimmer, warf krachend die Tür hinter sich ins Schloss. Andrew O´Leary stand regungslos im Raum, die Flasche in der Hand. Er hob sie vor seine Augen, schätzte den Flüssigkeitsstand ab, setzte sie an und leerte sie in einem Zug. Francis starrte ihn fassungslos an.
»Aber Mr. O´Leary …«, sagte er. Doch der ließ ihn nicht ausreden.
»Außergewöhnliche Ereignisse rufen außergewöhnliche Reaktionen hervor.«
Dann sah er den jungen Mann an, der sich wieder aufgerappelt hatte.
»Francis, ich habe Sie wirklich gern. Sie waren für mich wie ein Sohn, den ich niemals hatte. Und ich hätte Sie liebend gerne als Schwiegersohn in meine Arme geschlossen. Aber Sie verstehen, es geht nicht!«
Francis nickte.
»Mr. O´Leary, Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Wenn einer Schuld hat, dann ich alleine. Ich werde mich selbstverständlich von Ihrer Tochter fernhalten. Aber ich muss ihr diese Nachricht persönlich überbringen. Das erfordert mein letzter Rest an Ehre, den ich noch habe.«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Nein! Das übernehme ich. Sollte sie danach den Wunsch haben, mit Ihnen darüber zu reden, werde ich dies respektieren und mit ihr gemeinsam den Weg zu Ihnen finden. Aber ich bitte Sie, lassen Sie Sarah in Ruhe. Es wird hart genug für sie werden.«
Francis nickte.
»Selbstverständlich.«
Andrew blickte dem jungen Mann in die Augen.
»Und noch eines: Kommen Sie mir jetzt nicht auf die Idee, ihren Säbel zu ziehen oder ihre Pistole und sich damit der Verantwortung zu entziehen!«
Francis errötete. Sarahs Vater hatte in der Tat seine Gedanken erraten.
»Dafür sorge ich, dass er das nicht tut, Mr. O´Leary.«
Andrew fuhr herum. In der Tür stand Horatio Gordon, der kopfschüttelnd zu seinem Bruder ging, ihm in die Augen sah und ihn dann umarmte.
»Bruder, du bist ein Idiot!«
Sarah starrte in die Grube unter der größten Platane im Garten hinunter. Das kleine hölzerne Kreuz, das sie in aller Eile aus Zweigen zusammengebunden hatte und das jetzt auf der Schachtel mit Susan Birchs Kopf lag, war beinahe ein Hohn. Eilig und mit beiden Händen schob Sarah die Erde zurück in die Mulde und drückte sie fest, bis kein Unterschied mehr zu sehen war.
Schließlich sprach sie ein leises Gebet.
In der Ferne schlug die große Glocke des Big Ben. Sie erschrak. Bald würde Margret auftauchen. Auch ihr Vater würde nicht ewig wegbleiben. Sie fröstelte. Nebelfetzen waberten durch den Garten und Sarah stellte sich unwillkürlich vor, dass Susans Geist plötzlich vor ihr stand und anklagend auf sie zeigte.
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