Francis zog den Kopf ein. Er rechnete mit einer wilden Szene, mit Vorwürfen, mit Ohrfeigen. Doch alleine schon, dass Sarah ihm helfen wollte, das war mehr, als er erwartet hatte. Und mehr, als er ertragen konnte. Sie lächelte ihn freundlich an.
»Bei Gelegenheit komm einmal bei Vaters Praxis vorbei, damit ich mir anschauen kann, in welchem Stadium die Krankheit ist. Vielleicht kann ich dir schon Linderung verschaffen, ohne dich gleich mit Quecksilber zu vergiften, ich habe da ein paar Dinge gehört, die man ausprobieren kann.«
Dann wandte sie sich übergangslos an Francis‹ Bruder.
»Und dich, Horatio, erwarte ich morgen früh pünktlich um neun Uhr an unserem Haus. Ich brauche jemanden, der mit mir nach Whitechapel geht. Alleine ist mir das zu unsicher. Kann ich mit deiner Führung rechnen?«
Horatio konnte nur nicken. Diese Frau verblüffte ihn. Sie lächelte beiden noch kurz zu, dann verschwand sie wieder und ließ die Brüder zurück. Horatio pfiff durch die Zähne.
»Mein lieber Bruder, du hast mir nie gesagt, was für eine Schönheit deine Braut ist.«
Francis wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte. In ihm wuchs Eifersucht.
»Ich hatte meine Gründe!«
Horatio lachte.
»DAS glaube ich dir gerne. Aber denkst du wirklich, ich hätte versucht, sie dir auszuspannen?«
Francis sah ihn an.
»Ja!«
Horatio lachte lauthals.
»Du weißt wirklich nicht viel über Frauen, oder? Wenn sie sich hätte ausspannen lassen, dann, mein lieber Bruder, hätte sie nichts getaugt. Es gehören immer zwei zu diesem Spiel.«
Francis starrte ihn an. Er hatte sofort richtig vermutet, sein Bruder hätte es versucht. Am liebsten wäre er auf ihn losgegangen. Mühsam hielt er sich zurück. Aber Horatio gab einfach keine Ruhe.
»Ich verstehe dich nicht. Dieses Wesen hätte ich mit allem, was mir zur Verfügung stand, versucht in mein Bett zu bekommen. Und du? Da liegst du nachts in deiner Koje und spielst mit dir selber. Und dann, was noch schlimmer ist, fickst du ne billige Hafennutte.«
Francis wurde rot.
»Ja, das hättest du getan. Du weißt ja, wie man das macht.«
Horatio grinste breit. Er musste sich vergewissern, dass das stimmte, was er vorhin gehört hatte.
»Ist nicht wahr, oder? Du warst wirklich noch Jungfrau?«
Francie wurde wieder rot.
»Wie oft willst du mich das noch fragen, hat dir meine erste Antwort nicht ausgereicht? »
Die Gesichtsfarbe von Francis glich mittlerweile der eines überreifen Apfels. Horatio kugelte sich fast vor Lachen.
»Mensch, warum bist denn nicht zu mir gekommen? Ich hätte dir was in dein Bett gelegt. Aber was Sauberes, nicht so ne abgetakelte Fregatte, die mit halb Australien gevögelt hat.«
Im gleichen Moment bemerkte er seinen Fehler. Francis hatte Indien, nicht Australien gesagt, und er erwartete einen hefigen Widerspruch, der nicht kam. Das verwunderte ihn. Francis hatte ihn immer korrigiert, wenn er etwas falsch wiederholte. Aber es wurde noch seltsamer. Er sah in das Gesicht seines Bruders. Da war etwas, was er nicht zuordnen konnte. Er hatte mit einem Wutausbruch gerechnet. Oder mit einer Verteidigung. Oder eben jener Korrektur. Horatio wurde misstrauisch.
»Sag mal, nur aus Neugier: Warst du der Einzige, der sich was gefangen hat?«
In Horatio wuchs ein Verdacht. Francis druckste herum.
»Ja … nein … ich weiß nicht …«
»Wie du weißt nicht? Du willst mir erzählen, du und deine Kameraden habt gemeinsam die Hafennutten gefickt und erzählt euch nicht, dass ihr Ausschlag an euren Schwänzen habt? Was hat denn der Schiffsarzt gesagt?«
»Ich war nicht bei ihm.«
»Wie? Du warst nicht bei ihm?«
Horatios Verdacht wuchs immer mehr. Das war mehr als ungewöhnlich. Die Kapitäne der Navy legten großen Wert auf Hygiene, vor allem bei langen Seereisen. Ungeziefer wie Läuse oder Flöhe wurden rigoros bekämpft. Und wenn auch nur einer seiner Kameraden ebenfalls angesteckt war, hätte es auffallen müssen. Ein Infizierter könnte sich vielleicht verstecken, aber nicht mehrere. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Wenn das, was er vermutete, wahr wäre, dann war die ganze Angelegenheit schlimmer als befürchtet.
»Ich verstehe das nicht. Warum warst du nicht bei ihm? Und deine Kameraden?«
Francis sah seinen Bruder trotzig an.
»Was geht dich das an, ob meine Kameraden sich was geholt haben? Und ob ich beim Schiffsarzt war?«
Horatio nickte.
»Nun gut. Vielleicht hast du Recht. Aber vergiss nicht, ich habe deiner Braut versprochen, ihr zu helfen. Da solltest du mir die Wahrheit sagen.«
»Du kennst sie. Ich war in Indien bei ner Hafennutte. Die hat mich entjungfert und umgebracht. Mehr gibt es nicht zu sagen.«
Er wandte sich ab. Horatio wusste, er würde im Moment nicht mehr erfahren. Also beließ er es dabei, aber er würde seine Fühler ausstrecken.
»Komm, kleiner Bruder. Wir waren nie die besten Freunde. Aber wir haben das gleiche Blut, wir haben die gleiche Mutter. Und ich werde alles tun, um dir zu helfen. Und ich verspreche dir: Ich lasse die Finger von Sarah!«
Francis drehte sich wieder zu ihm um.
»Das würdest du tun?«, fragte er mit einem bemitleidenswerten Gesicht. Nur sah es für Horatio nun wie eine Maske aus. »Wirklich?«
Horatio nickte.
»Ja! Bei meiner Seele! Und jetzt werden wir unseren alten Herrschaften beibringen müssen, dass sich im Hause Gordon einiges ändern wird.«
Margret und Andrew saßen bereits am Frühstückstisch, als Sarah ins Esszimmer hinunter kam. Eigentlich war sie beim Frühstück immer pünktlich, weil es im Hause O’Leary das friedlichste Mahl war, höchstwahrscheinlich aus dem Grund, dass sich jeder hinter einem Teil der Tageszeitung verschanzte und außer »Reichst du mir bitte den Tee« keine Konversation stattfand.
Es war das erste Mal, dass Sarah zu spät erschien, was Margret gleich zu einem ungnädigen »Geben Madame sich auch endlich die Ehre?« befleißigte.
Sarah reagierte nicht darauf. Sie hatte schlecht geschlafen und war deshalb später als sonst erwacht. In der Nacht war sie, wie seit einer Woche schon, mehrfach von Albträumen heimgesucht worden, die sie immer wieder hatten hochschrecken lassen, aber sofort aus ihrem Gedächtnis geflossen waren wie Wasser durch die hohlen Hände.
Schweigend setzte sie sich auf ihren Platz, aber Margret war noch nicht fertig.
»Wie siehst du überhaupt aus? Wie eine Küchenmagd!«
»Ich gehe heute nach Whitechapel«, verkündete die Rothaarige und griff nach der Hafergrütze, die sie großzügig mit Zimt und Zucker bestreute.
Andrew hob überrascht den Kopf.
»Was, heute? Ich kann dich nicht begleiten, Kind, ich habe ein paar sehr wichtige Termine!«
»Das brauchst du auch nicht«, erklärte Sarah mit vollen Backen. »Horatio Gordon wird mit mir kommen. Man erzählt sich, dass er sich in dem Viertel sehr gut auskennt.«
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