Eilig, bevor Margret sie noch einmal zurückhalten konnte, schlüpfte Sarah durch die Eingangstür, vor der Horatio gerade wieder die Hand nach dem Glockenzug ausstreckte, und schloss lautlos die Tür hinter sich. Der junge Mann öffnete gerade den Mund, um die Rothaarige zu grüßen, da packte sie ihn schon am Arm und zerrte ihn die fünf Stufen hinunter, die zu dem Portal aus dunklem Holz führten.
»Schnell weg, bevor meine Tante uns doch noch zurückhält«, zischte sie und eilte schon den Weg entlang, der zum Zaun führte.
Verblüfft stolperte Horatio neben ihr her und musste grinsen. Wieder trug sie schlichte, unauffällige Kleidung und er musste sie insgeheim für ihre Voraussicht bewundern. Über eine Schulter trug sie eine lederne Tasche, die ihr bei jedem Schritt an den Oberschenkel schlug.
»Wenn du erlaubst, trage ich die Tasche für dich«, bot Horatio an.
Sarah warf ihm einen zögernden Seitenblick zu und überließ ihm dann die Tasche, die überraschend schwer war. Sie gab ihre Sachen nur ungern aus der Hand, aber der Weg nach Whitechapel war recht weit und sie hatte sich gegen die Benutzung einer Kutsche entschieden. In den engen Straßen kam man nur schwer vorwärts, außerdem verhieß eine Kutsche Reichtum und hätte gewisse Leute dazu verleiten können, sie zu überfallen.
Sie sprachen nicht viel, als sie nebeneinander her an den großzügigen Villengrundstücken von Greenwich vorbeigingen, grüßten nur gelegentlich Passanten, die ihnen entgegen kamen und ihnen erstaunte Blicke zuwarfen. Es war allgemein bekannt, dass Sarah O’Leary mit Francis Gordon verlobt war. Sie mit seinem Bruder zu sehen, würde die Gerüchteküche wahrscheinlich schnell in Gang setzen.
Hin und wieder warf Sarah ihrem Begleiter einen verstohlenen Seitenblick zu. Wie sie hatte er einfache, zerschlissene Kleidung gewählt und sich nicht rasiert, der ihr schon bekannte Drei-Tage-Bart bedeckte Kinn und Wangen. Er war so anders als sein Bruder! Wenn sie ihm in der Dämmerung begegnet wäre, hätte sie sich gefürchtet.
Was Sarah nicht wusste, war, dass Horatio die ganze letzte Nacht nicht geschlafen hatte. Seit ihn Inspector Abberline hatte rufen lassen, war er die ganze Nacht durch Whitechapel gestreift.
Als der Bote ihn beim Kartenspiel in einem Hinterzimmer gefunden hatte, da hatte Horatio sich zuerst drücken wollen, aber der Bote hatte ihm die Nachricht überbracht, dass jede Zusage durch den Inspector nur von seiner eigenen Bereitschaft abhängig war, ihm zu helfen, wann immer er es verlange.
Horatio hatte geflucht. Er hatte gerade ein Gewinnerblatt auf der Hand gehabt, aber er fügte sich. Der Inspector hatte ihn vor einiger Zeit erwischt, als er beim Whist betrogen hatte. Spielbetrug war etwas, was durchaus böse enden konnte. Noch dazu, wenn man Horatio Gordon hieß und nicht gerade ein Unbekannter bei der Polizei war.
Es war einiges zusammengekommen. Er hatte gefälschte Anleihen für die neue Brücke verkauft, Geld gefälscht und auch den ein oder anderen Diebstahl begangen.
Jetzt musste er seine Schulden zurückzahlen. Der Inspector hatte ihm den Torso gezeigt, der gefunden worden war. Die Aufgabe war gewesen, herauszufinden, ob irgendwo in Whitechapel eine Nutte vermisst würde. Abberline hatte nur die vage Vermutung, dass es sich um eine solche handeln könnte. Und er musste alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. So hatte er Horatio losgeschickt, aber der hatte bis zum Morgen nichts herausgefunden.
Während er neben Sarah herging, dachte er nach. Zum Glück schwieg sie. Schließlich erreichten sie die Brücke über die Themse und verließen Greenwich. Auf der anderen Seite des Flusses war das Bild ein so gänzlich anderes, dass man das Gefühl haben konnte, die Themse sei das Tor zu einer anderen Welt. Statt grünen Parks und großen, vornehmen, einzeln stehenden Häusern drängten sich hier schmutzige Lagerhallen neben mehrstöckigen, von Ruß dunkel gefärbten Arbeiterblocks, deren Fenster windschief in den Angeln hingen und so schmutzig waren, dass es keine Vorhänge brauchte, um den Blick ins Innere zu verhindern. Die Straßen lagen voller Unrat und die Menschen waren nicht weniger schmutzig als die Umgebung.
In den Docks war schon zu dieser frühen Stunde eine Menge los, Menschen und Pferde liefen einander in die Füße, zerrten Karren über löchrige Straßen und schrien einander an, wenn sie sich gegenseitig die Wege blockierten. Schon hier war es ungemütlich, aber Horatio wusste, dass diese Gegend, verglichen mit Whitechapel, noch vornehm war. Er beobachtete Sarah und wunderte sich, dass der Dreck und der Lärm sie nicht zu stören schienen. Den Rock mit einer Hand gerafft, um ihn nicht im ärgsten Schlamm schleifen zu lassen, schlängelte sie sich graziös wie eine Tänzerin zwischen den vielen Menschen hindurch und hielt geradewegs auf einen Stand zu, an dem frisch gefangener Fisch verkauft wurde.
Verwundert folgte der junge Gordon ihr. Warum in aller Welt wollte sie Fisch nach Whitechapel mitnehmen? Als sie jedoch angekommen waren und er hörte, wie Sarah zwei Dutzend Fischblasen verlangte, ging ihm ein Licht auf – und nicht nur ihm!
Der fette Fischverkäufer, der mit seiner fahlweißen Gesichtsfarbe und den hervorquellenden Augen selbst aussah wie ein Karpfen, grinste Sarah mit faulenden Zähnen an.
»Wie viel soll denn die halbe Stunde kosten, Rotfuchs?«
In einer Mischung aus Ekel und Empörung starrte Sarah den Mann an.
»Sehe ich etwa wie eine Hure aus? Und selbst wenn ich eine wäre, könntest DU doch sowieso keine halbe Stunde durchhalten!«
Die Umstehenden brachen in schallendes Gelächter aus, und der Fischverkäufer wurde zornrot.
Horatio grinste. Es war ihm schon klar, dass Sarah nicht auf den Kopf und schon gar nicht auf den Mund gefallen war. Aber es erstaunte ihn, dass die ›eiserne Jungfrau‹, wie er sie in Gedanken nannte, doch nicht so prüde war, wie er es befürchtet hatte. Sie schien mehr über dieses Thema zu wissen, als er vermutet hatte.
»Jedenfalls weiss ich, dass man Fischblasen nicht in der Suppe kocht«, knurrte der bleiche Verkäufer. »Die besseren Huren benutzen sie, damit ihnen niemand ein Balg anhängt. Wenn du also zwei Dutzend haben willst, scheinst du ziemlich umtriebig zu sein!«
»Wie umtriebig ich bin, mit wem und warum, das geht dich einen feuchten Dreck an«, zischte Sarah mit wachsender Ungeduld. »Bekomme ich jetzt die Blasen oder muss ich mir einen anderen suchen? Du bist nicht der Einzige an der Themse, der Fische verkauft!«
Murrend packte der Mann das Gewünschte ein, und als Sarah bezahlte, erlaubte er sich die nächste Frechheit.
»Eigentlich schade, so hübsch und so ein Besen. Vielleicht sollte ich mir dich wirklich mal ordentlich vornehmen, damit du ein wenig zufriedener wirst.«
Diesmal gingen die Lacher auf Sarahs Kosten. Sie schien jedoch gar nicht darauf einzugehen, deutete auf eine große Forelle.
»Diesen Fisch nehme ich noch. Was kostet er?«
»Einen Shilling.«
Sarah legte die Münze auf den Stand, und dann, zum Erstaunen aller Zuschauer, nahm sie den Fisch mit festem Griff am Schwanz. Noch bevor irgendjemand begriff, was sie vorhatte, hatte sie dem Fischhändler seine eigene Ware rechts und links um die Ohren gehauen. Dann ließ sie die Forelle einfach liegen, drehte sich kommentarlos um und ging in Richtung Whitechapel davon.
Читать дальше