Gerade in diesem Augenblick fiel Sarahs Blick auf einen Mann - zumindest nahm sie anhand seiner Haare an, dass es ein Mann war, denn seine Gesichtszüge waren zu zerfressen, um es mit Sicherheit sagen zu können -, der anstelle von Nase und Mund ein einziges, klaffendes Loch hatte, aus dem ein paar Zähne ragten. Die Betroffenheit in ihrer Stimme, als sie den Satz beendete, war echt.
»Die Syphilis …«
Ein Raunen ging durch den Raum, halb aus Bestürzung, halb aus Scham. Die wenigsten sprachen je von der Lustseuche.
Sarahs Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.
»Ich habe es mir zum Ziel gesetzt, sie zu besiegen. Vielleicht kann ich sie nicht völlig heilen, aber zumindest aufhalten oder die Symptome lindern. Aber dazu brauche ich Hilfe, eure Hilfe!«
Das vereinzelte Gemurmel, das noch durch den Raum gegeistert war, verstummte. Sarah war bereit zu wetten, dass jeder in diesem Raum mindestens eine Person kannte, die betroffen war, wenn nicht sogar selbst erkrankt.
»Ich habe von vielen Methoden der Behandlung gehört, aus verschiedenen Kulturen, aber ich weiß nicht, wie viel Wahrheit daran ist, was wirklich hilft. Daher brauche ich mutige Mitstreiter an meiner Seite, die bereit sind, mit mir Experimente zu machen, die bereit sind, verschiedene Behandlungen an sich ausprobieren zu lassen.«
»Und warum sollten wir uns auf so etwas einlassen?«, rief ein hagerer Mann aus einer Nische. »Das könnte unser Tod sein!«
»Wenn dich kein Arzt umbringt, Walther, dann wird es der Alkohol bald sowieso erledigen«, hielt Freddie Bell dagegen, und alle lachten. Sarah hob die Hände und schnell wurde es wieder ruhig. Horatio entspannte sich wieder. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl gehabt, die Situation würde sich dahingehend entwickeln, dass Ärger drohte, aber die Bemerkung des Wirtes hatte sie wieder entspannt.
»Wie Freddie schon sagte … ohne Behandlung sterbt ihr sowieso. Ich werde euch sehr genau beobachten und sofort abbrechen, wenn ich das Gefühl habe, dass es euch schlechter geht. Und ich weiß, dass die meisten sich nur deshalb nicht behandeln lassen, weil sie es sich ohnehin nicht leisten können. Darum braucht ihr euch bei mir keine Sorgen zu machen. Nicht nur meine Behandlung wird umsonst sein, nein, ich werde euch sogar einen Wochenlohn zahlen.«
Das war das Stichwort. Sofort redeten alle aufgeregt durcheinander, reckten die Köpfe, aber beruhigten sich sehr schnell wieder, um Sarah ausreden zu lassen. Sie blieb völlig ruhig und souverän.
»Ich zahle jedem, der an meiner Forschung teilnimmt, fünf Shilling die Woche. Aber ihr müsst euch ganz genau an meine Anweisungen halten, sonst funktioniert es nicht. Und ich brauche auch ein paar Leute, die sich nicht behandeln lassen möchten, damit ich den Verlauf der Krankheit dokumentieren kann. Ich gehe jetzt hinauf ins Behandlungszimmer. Ihr könnt einer nach dem anderen zu mir kommen, und ich werde euch mir ansehen. Jeder mit der Syphilis ist mir willkommen, ich brauche wirklich so viele wie möglich. Erzählt es weiter. Ich will nicht nur forschen, sondern auch helfen. Jeder Gerettete ist ein Erfolg.«
Horatio verschluckte sich fast an seinem Bier. Fünf Shilling? Er schüttelte den Kopf, wollte etwas zu Sarah sagen.
Doch sie drehte sich um und stieg die Treppen in den ersten Stock hinauf, wo Freddie Bell Zimmer vermietete und eines für die monatlichen Untersuchungen freihielt.
Sie hörte, wie hinter ihr in der Wirtsstube ein regelrechtes Chaos ausbrach, als alle über ihr Angebot diskutierten.
Als Sarah die Tür des ihr zugedachten Zimmers schließen wolle, hätte sie Horatio beinahe die Hand eingeklemmt. Erschrocken zuckte sie zusammen:
»Oh … ja … du bist ja auch da!«
»Ja, verdammt! Ich bin auch da. Sag mal, bist du vollkommen wahnsinnig? Jetzt sag mir bloß nicht, du hast Geld dabei, um die Ersten direkt zu bezahlen? Schreib doch direkt ein Schild auf dem steht: Ich trage Geld bei mir! Vergewaltigt, beraubt und tötet mich! Und dann hängst du es dir um und gehst durch die Straßen.«
Horatio war bleich vor Wut. Aber auch aus Wut über sich selber. Daran hätte er denken müssen.
Sarah sah ihn an. Und sie erkannte, Horatio war nicht Francis. Sie hatte gehofft, er wäre ihm ähnlicher. Francis hätte sie niemals so angegangen. Sie holte tief Luft.
Constable George W. Peppard stand am Themseufer. Mit einem missmutigen Gesicht starrte er auf das Wasser, auf dem mehrere mit Polizisten und Zivilisten bemannte Boote langsam hin - und herfuhren. Mit langen Stangen suchte man unter dem trüben Wasser nach weiteren Teilen der Leiche, die man am Vortag gefunden hatte.
Peppard war nicht nur missmutig, weil er diesen langweiligen Dienst versah. Er war eigentlich immer schlecht gelaunt, seit ihn seine Frau vor einem halben Jahr verlassen hatte.
»Ich halte es mit dir nicht mehr aus«, hatte sie ihn angebrüllt, ehe sie mit ihren Siebensachen das Haus verlassen hatte. Dabei war er sich keiner Schuld bewusst. Die Backpfeifen, die er ihr verpasst hatte, wenn er mal betrunken aus dem Pub gekommen war, die waren doch nicht so schlimm. Oder doch? Er kratzte sich zwischen den Beinen. Es juckte schon seit Tagen. Was war denn das?
»Wie sieht es aus, habt ihr was gefunden?«, rief er den Männern zu.
»Nur allen möglichen Müll, Constable«, rief einer zurück.
Peppard nickte. Etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Und er hoffte, dass man nichts fand. Denn falls doch, dann müsste er ellenlange Berichte schreiben, den Fund zum Gerichtsmediziner bringen, noch mehr Berichte schreiben. Er kratzte sich erneut.
»Verdammt, dieses Jucken bringt mich um«, fluchte er.
»Dann waschen Sie sich!«
Peppard fuhr herum. Inspector Frederick G. Abberline stand hinter ihm. Sofort nahm er Haltung an.
»Sir!«
»Und, Peppard, was gefunden?«
»Nein Sir.«
Abberline nickte.
»Weitersuchen. Bis etwas gefunden wird.«
»Ja Sir.«
»Und Peppard, Sie sollten sich nicht in aller Öffentlichkeit zwischen den Beinen kratzen. Sie sind Angehöriger der Polizei, kein Straßenjunge. Wie sieht das aus, wenn Sie sich vor allen Leuten am Sack kratzen?«
»Ja Sir.«
Peppard wäre am liebsten im Boden versunken. Dass ausgerechnet Abberline ihn dabei erwischt hatte, machte es noch schlimmer. Er wollte etwas erwidern, doch Abberline war schon wieder verschwunden. Peppard überlegte. Wie hieß die Nutte, bei der er vor einiger Zeit gewesen war? Ob die ihm was angehängt hatte? Er beschloss, sie sobald es ginge aufzusuchen und herauszufinden, ob sie ihn mit etwas angesteckt hatte. Und wenn ja, dann Gnade ihr Gott.
»Was glaubst du eigentlich, mit wem du hier redest?«
Sarah fauchte Horatio an wie eine Katze und ihre grünen Augen schienen dabei Blitze zu schleudern.
»Ich bin nicht deine Küchenmagd und auch keins der naiven Dummchen, denen du sonst so den Kopf verdrehst! Ich bin nicht zum ersten Mal in dieser Gegend, ich kenne viele Leute hier, und den meisten von ihnen habe ich schon einmal geholfen. Dich habe ich mitgenommen für den Fall, dass ich irgendwo einmal allein durch eine dunkle Gasse gehen muss. Solange viele Menschen um mich herum sind, brauche ich dich nicht, denn für jeden Halunken, der mir den Hals durchschneiden will, sitzen da unten drei, die ihn daran hindern werden.«
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