Sie hatten das Treffen mehrfach verschieben müssen. Sarah hatte sich erst umfassend informiert und jeden Artikel, den sie über die Krankheit finden konnte, regelrecht verschlungen. In ihrem »Heilungstagebuch«, wie sie es nannte, hatte sie alle wichtigen Details notiert. Sie hoffte, dass am Ende wirklich eine Heilung stand. Aber heute musste sie mit der praktischen Arbeit beginnen, auch wenn sie noch nicht wusste, wie diese aussehen würde.
»Ja,« Margret schnaubte verächtlich. »Vor allem überall, wo dem Glücksspiel gefrönt wird! Das ist doch kein Umgang für dich, Sarah!«
Die junge Frau blieb ruhig und ungerührt.
»In einem Viertel wie Whitechapel ist es besser, wenn ich jemanden bei mir habe, der von den Menschen dort als ihresgleichen akzeptiert wird. Ich werde bei Horatio sicherer sein als bei jedem Gentleman der hohen Gesellschaft. Außerdem war er bei der Kavallerie und weiß sich zu wehren.«
Auch Andrew war nicht begeistert von den Plänen seiner Tochter.
»Also Sarah, ich weiß nicht. Horatio Gordon hat nicht den besten Ruf, was Frauen angeht … ich will nicht, dass du dich allein mit ihm herumtreibst!«
Entrüstet sah Sarah ihren Vater an.
»Papa, also bitte … wir werden am helllichten Tag in einem der belebtesten Viertel Londons unterwegs sein, was soll da schon passieren? Außerdem ist er wohl ehrenvoll genug, sich nicht an der Verlobten seines Bruders zu vergreifen!«
Die Diskussion wäre an dieser Stelle sicher noch nicht beendet worden, wenn Margrets Aufmerksamkeit nicht von einem Artikel in der Zeitung abgelenkt worden wäre.
»Oh, wie grauenvoll«, entfuhr es ihr, und noch bevor man sie dazu auffordern konnte, las sie den Artikel laut vor:
»In den frühen Morgenstunden des 11. Mai 1887 wurde in der Themse bei Rainham ein Sackleinen-Paket gefunden, welches den Unterleib einer toten Frau enthielt. Oberkörper, Beine, Arme sowie der Kopf konnten bisher nicht gefunden werden, aber es wurde bereits eine weiträumige Suche mit Booten auf der Themse eingeleitet, um den Rest des Körpers zu finden. Zeugen, die etwas Verdächtiges gesehen haben oder eine Frau im Alter zwischen 25 und 30 Jahren vermissen, melden sich bitte unverzüglich bei Constable Stock in … Sarah, geht es dir nicht gut, Kind?«
Die Rothaarige reagierte gar nicht. Sie war kreidebleich und starrte vor sich ins Leere, der Löffel in ihrer Hand zitterte.
Plötzlich waren die Bilder der nächtlichen Albträume wieder sehr präsent, sie erinnerte sich an jedes Detail, auch an die Tatsache, dass diese Träume keine Träume waren.
Sie erinnerte sich an ein scharfes Messer, dass durch Susan Birchs Haut, Fleisch und Sehnen schnitt, das Glieder aus Gelenken löste, ihre Panik, als die Säge im Schuppen nicht scharf genug gewesen war, um den Rumpf in zwei Teile zu trennen. Erst mit der Knochensäge ihres Vaters, die sie eilends aus der Praxis geholt hatte, war ihr die Zerteilung gelungen.
»Sarah?«
Erst jetzt bemerkte Sarah, dass Andrew und Margret sie besorgt ansahen, und riss sich zusammen, lächelte verlegen.
»Entschuldigt … ich war in Gedanken. Aber jetzt muss ich auch langsam los.«
Ihre Hafergrütze blieb fast unberührt auf dem Tisch zurück, als Sarah mit wackligen Knien in ihr Zimmer ging, um sich etwas zu beruhigen, bevor sie das Haus verließ. Sie stellte sich ans Fenster und starrte hinaus in den Garten. Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken zu jener Nacht zurück, in der sie Susan umgebracht hatte.
Vier Pakete hatte sie binden müssen, damit es nicht zu sehr auffiel, wenn sie die Leiche wegschaffte. Trotzdem war es ein Wunder gewesen, dass niemand sie gesehen hatte, als sie sich, jeweils ein Sackleinen-Bündel in den Armen, viermal auf den Weg zur Themse gemacht hatte, um die Leichenteile hineinzuwerfen. Der Nebel war ihr Freund gewesen, hatte sie und das Geräusch ihrer Schritte verschluckt. Trotzdem war das Platschen, mit dem die Pakete ins Wasser gefallen waren, ihr unnatürlich laut vorgekommen, und das Geräusch verfolgte sie bis in ihre Träume.
Die Türglocke riss Sarah aus ihren Gedanken. Horatio war gekommen.
Zur selben Zeit hatte Francis sich seine Uniform angezogen. Er hatte am Vortag eine Mitteilung erhalten, dass er vor dem Marinegericht zu erscheinen habe, wo über seinen Fall verhandelt werden würde.
Er ging gemessenen Schrittes zu dem Gebäude, welches sich am Ende der Naval Academy befand. Dort wurde er zunächst in den Flur gesetzt, bis man ihn aufrief.
An einem langen Tisch thronten mehrere Admiräle, welche schon lange aus dem aktiven Dienst zur See ausgeschieden waren. Sie sahen ihn ernst an.
Zur Linken saß ein Schreiber, der jedes Wort, das gesprochen wurde, notierte.
Francis hatte auf einen Rechtsbeistand verzichtet, er wusste, auch dieser würde nicht viel ändern können. Er bewahrte mit Mühe Haltung. Doch in seinem Inneren tobte ein Sturm.
Man forderte ihn auf zu erzählen, was geschehen war. Francis wiederholte, was er bereits mehrmals erzählt hatte. Er wäre mit einigen Kameraden nach dem Genuss von reichlich Rum in einem Bordell gelandet, wo er sich bei einer Prostituieren die Lustseuche geholt hätte.
Man entließ ihn aus dem Saal.
»Bitte halten Sie sich in Bereitschaft, wir lassen Sie rufen.«
Es dauerte nicht lange und ein hochgewachsener Offizier bedeutete ihm, wieder einzutreten. Sein erster Blick ging zum Tisch. Er wusste, auf diesem Tisch würde ein Degen liegen. Zeigte der Griff auf ihn, würde er als unschuldig erachtet. Zeigte jedoch die Spitze auf ihn, so musste er mit einem Urteil rechnen.
Wie er es erwartet hatte, zeigte die Degenspitze auf ihn. Er nahm Haltung an, die Admirale standen auf.
»Sub - Lieutenant Gordon, das Gericht der Royal Navy hat Ihren Fall sorgfältig geprüft und ist zu folgendem Urteil gelangt: Sie haben sich der vorsätzlichen und willentlichen Schädigung des Ansehens der königlichen Marine schuldig gemacht. Sie haben sich selber durch Ihr Verhalten einen körperlichen Schaden zugefügt, der es Ihnen auf Dauer unmöglich macht, Ihre Pflichten gegenüber Ihrer Majestät, Ihrem Land und der Navy zu erfüllen. Sie haben sich äußerst undiszipliniert verhalten und sind damit ein schlechtes Vorbild für jeden Matrosen in der Navy. Aus diesem Grunde werden Sie mit sofortiger Wirkung aus der Navy ausgeschlossen. Sie sind weder befugt, Ihren Rang weiter zu führen noch dazu, diese Akademie oder eines der Schiffe Ihrer Majestät zu betreten.«
Der Admiral schluckte.
»Junge, was haben Sie sich nur gedacht? Sie sind eine Schande für die Navy und Ihre Familie.«
Francis gab keine Antwort. Zwei Petty Officer traten neben ihn und nahmen ihm die Rangabzeichen ab.
»Ihren Degen, Sir«, bat einer.
Mit zitternden Händen schnallte Francis ihn ab und reichte ihn der wartenden Hand. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand. Zu Hause würde er die Uniform ausziehen und sie nie mehr tragen, das wusste er.
Als er durch den Hof schritt, sah er, wie sich Gesichter an Fenster drückten. Sein Fall war Gesprächsstoff an der ganzen Akademie. Doch er schwor sich, er würde etwas anderes finden, um sich selber zu bestätigen.
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