1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 „Und dann zog Frau Weberknecht in die Wohnung über Ihnen?“
„Genau. Wissen Sie, wir waren sehr eng befreundet und die Wohnung oben ist ja auch ein echtes Prachtstück. Darum war ich natürlich froh, dass nach Hildegard ein so liebes Mädchen einzog.“
„Dann liegt Ihnen sicher auch viel daran, dass wir denjenigen, der ihr das antat, so schnell wie möglich finden“, folgerte Hannes und wunderte sich selbst, wie schnell er sich auf die Wortwahl der alten Dame eingestellt hatte.
„Aber natürlich, sagen Sie mir, was ich tun kann.“ Hannes nickte. „Wann haben Sie denn Frau Weberknecht zum letzten Mal gesehen?“
„Gestern früh, vor dem Einsingen für die Probe. Sie kam gerade vom Bäcker und hatte es eilig.“
„Und wann genau war das?“
„Also nach ihr kann man ja die Uhr stellen. Jeden Morgen singt sie sich von neun Uhr zwanzig bis neun Uhr fünfundvierzig ein, dann fährt sie zur Probe ins Theater. Die beginnt um zehn. Also ich schätze, es war so kurz vor neun.“
„Hatte sie Besuch?“
„So kurz vor der Probe? Nein.“
„Aber Sie wissen nicht, ob sie zu dieser Probe gegangen ist?“ „Na ja, davon gehe ich aus. Ihr Auto stand über Mittag nicht im Hof und daher denke ich, sie ist damit weggefahren.“ „Haben Sie gestern jemanden im Haus gesehen, der zu Frau Weberknecht wollte?“
„Nein. Es könnte natürlich sein, dass jemand bei ihr war, aber wissen tue ich es nicht.“
Der Kommissar spürte, wie sie mit sich rang.
„Frau Neumüller, wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sagen!“
„Ich weiß wirklich nichts und das ärgert mich eben. Ich habe Brahms gehört. Brahms muss man laut hören, erst dann kommt er so richtig zu Ehren. Aber jetzt ärgere ich mich natürlich, dass ich nicht auf das geachtet habe, was im Haus vor sich ging, verstehen Sie?“
Hannes nickte erneut.
„Hatte sie denn einen Freund?“
Agnes Neumüller sah den jungen Kommissar musternd an, bevor ein Lächeln über ihr mit feinen Linien belebtes Gesicht huschte. „Ihnen hätte sie auch gefallen!“ Dann wurde ihr bewusst, was sie dem Kommissar eben unterstellt hatte und fügte schnell hinzu: „So wie sie aussah, sollte man meinen, dass sie einen Freund hatte, nicht?“
„Und?“
„Mir hat sie keinen vorgestellt.“
Hannes seufzte. Wäre ja auch zu schön gewesen.
„Manchmal hat sie nachts Besuch bekommen.“
„Sie meinen, es hat jemand bei ihr übernachtet?“, fragte er aufgekratzt zurück. „Ein Mann?“
„Ich weiß nicht, ob er die ganze Nacht blieb, aber er kam immer so gegen drei Uhr morgens. Wegen der genauen Uhrzeit bin ich mir nicht ganz sicher.“
„Und wie oft kam er?“
„Also, das muss im Sommer gewesen sein. Ich meine, ich überwache ja nachts nicht das Treppenhaus. Aber im August war es so heiß und da konnte ich nicht schlafen, und eines Nachts hörte ich auf der Treppe Schritte und hab dann vorsichtig den Vorhang an der Wohnungstür zur Seite geschoben um zu sehen, wer draußen ist.“
„Würden Sie den Mann wiedererkennen?“ Hannes begann weiter zu hoffen.
„Nein, nein, ich glaube nicht. Er ging ja im Dunklen hinauf und irgendwie sah er zur Wand.“ Agnes Neumüller stutzte. „Meinen Sie, er hat gewusst, dass ich ihn sehe, und hat deshalb zur Wand gesehen?“ Hannes zuckte die Schultern.
„Meinen Sie, das war ihr Mörder?“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie sich beide Hände aufs Herz legte. Es dauerte eine Weile, bis sie und ihr Atem sich wieder beruhigt hatten.
„Auf jeden Fall hat er sich gut im Haus ausgekannt.“
„Und Frau Weberknecht hat ihn erwartet?“
„Zumindest hatte er einen Schlüssel.“
„Das ist ja interessant.“
„Hilft Ihnen das weiter?“
Hannes überlegte. Nein, eigentlich nicht, nicht wenn sie ihm keine Beschreibung geben konnte. Aber immerhin wusste er jetzt, dass jemand einen Schlüssel zu Sophias Wohnung hatte und häufiger in der Nacht zu Besuch kam. Vielleicht tatsächlich der Mörder?
„Ja, wenn Ihnen doch noch etwas zu diesem Besuch einfällt, würden Sie mich dann bitte anrufen?“ Er legte eine Karte mit seiner Durchwahl auf ihren Kaffeetisch. Sie war druckfrisch.
„Aber natürlich, Herr Kommissar, das mach ich doch gerne.“
„Na, dann will ich mal unten mein Glück versuchen, bei …“, er schaute auf seinen Block.
„Der Herr Brandner ist verreist. Schon die ganze Woche.“
„Wissen Sie, wann er wieder kommt?“
„Das weiß man bei ihm nie. Er fährt immer wieder für längere Zeit zu seinen Kindern und Enkeln. Aber ich kann Sie ja anrufen, wenn er wieder da ist?“
„Das wäre sehr nett von Ihnen.“
***
Sichtlich verlegen stand Hauptkommissar Berthold Brauser vor der Wäschekommode im Schlafzimmer der Toten. Er hatte die oberste Schublade geöffnet und hielt nun zarte, viel zu klein wirkende Wäscheteilchen in seinen rauen Händen. Sie waren schwarz, grau, lila und champagnerfarben. Die Spitze war weich, der Satin kühl und glatt, die Seide voller Leben.
Kurz sah er zum Bett, aber die Tote war inzwischen auf dem Weg in die Rechtsmedizin nach München.
Während er nun so da stand, dachte er an Maria. Solange er mit ihr zusammen war, trug sie weiße Baumwollschlüpfer. Achtunddreißig Jahre lang. Und es war immer schön gewesen, wenn er sie ihr ausgezogen hatte. Früher und auch später noch.
Nun hielt er diese Teilchen in den Händen und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit so etwas ausgesehen hätte, damals, mit den langen blonden Haaren, ihrem strahlenden Lächeln, als man sie für alles hatte begeistern können. Brauser überkam in Erinnerung ein sanftes, längst vergessenes Gefühl einer heiß brennenden Liebe. Ach, seine Maria!
Was hatten sie nicht alles erlebt. Sie beide und die Vespa, mit der sie durch die Landschaft gefahren waren. Gemeinsam hatten sie ihre Jugend genossen und alles, was neu und schön war. Maria trug duftige Blumenkleider und er hatte die Haare zurückgekämmt. Schwarz wie das Gummi der Reifen waren sie gewesen. Mit einer schnellen Bewegung fuhr er sich durchs Haar und stöhnte. Sein Kopf schmerzte.
Für einen Moment schloss er die Augen und legte dann die Sachen zurück in die Schublade, um als Nächstes den Kleiderschrank zu öffnen. Dunkle Hosen, weiße Blusen, edle Kaschmirpullis, ein braunes Kleid mit geometrischen Motiven und einem braunen Satingürtel. Brauser nahm es heraus und sah es lange an, bevor er es zurückhängte. Am Boden standen sauber geputzte Schuhe mit hohen Absätzen und zierlichen Riemchen für den Sommer und einige Paar Stiefel für den Winter. Er ging ins Wohnzimmer. Annemarie und ihre Truppe waren gegangen und sie hatten noch immer nichts gefunden, deshalb würden sie wiederkommen müssen. Brauser trug jetzt brav seine Latexhandschuhe. Er brauchte in seinem Zustand nicht noch einen Rüffel von Annemarie.
Neben unzähligen Büchern und CDs saßen Engel im Regal: Unschuldsengel, Weihnachtsengel, Schutzengel? Lieblich, kitschig, fromm und am Ende erfolglos, dachte er, nachdem er einen nach dem anderen in die Hand genommen und wieder an seinen Platz gestellt hatte. Im unteren Bereich stand eine aus verschiedenen Bausteinen ordentlich aufeinandergesetzte Stereoanlage und daneben, in einem Ständer aus Chrom, Opern aller Art, Klassik, aber auch Jazz. In zwei Ecken die dazugehörenden Lautsprecher, für den Geschmack des Kommissars ziemlich dominant. Der zierliche Sekretär im Fenstererker war ordentlich aufgeräumt. Neben mehreren Stapeln Notenmaterials befanden sich in einer Ablage ein paar Rechnungen. Brauser blätterte sie durch: Kleidung, Lebensmittel, Tankrechnungen – nichts Besonderes. Ein Notizblock, ein örtliches Telefonbuch, eine Zeitung von Mittwoch und ein paar Stifte; nichts, was ihn interessierte.
Er spürte, wie der brennende Schmerz in seinen Fußballen zunahm. Zu viel Harnsäure, hatte ihm der Arzt erklärt. Das komme vom Alkohol. Brauser wusste, dass es bald schlimmer wurde. Er brauchte dringend einen Schnaps.
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